Rockin‘ like it’s 1917

Konkret, 10/2022

Wie die Linkspartei die Systemfrage mit einer Umverteilungskampagne entschärfen will.

Falls in den kommenden Dekaden noch Geschichtsschreibung betrieben werden sollte, dürfte 2022 dort als das Jahr eingehen, in dem aus der Klimakrise eine Klimakatastrophe wurde. Während in Europa die Flüsse austrockneten und diejenigen Laubbäume, die nicht in Flammen aufgingen, sich schon im Hochsommer braun färbten, schrumpfte Chinas größter Süßwassersee aufgrund einer beispiellosen Dürre- und Hitzewelle auf ein Viertel seiner Fläche. Der Wassermangel führte dazu, dass duzende Flüsse in der Volksrepublik versiegten oder zu wenig Wasser führten, um aus Wasserkraft Strom zu erzeugen, was wiederum den Kohleverbrauch steigen ließ. In den USA, wo im August knapp 30 Prozent der Bevölkerung in Dürregebieten lebte, sind inzwischen ganze Bundesstaaten und Millionen von Haushalten auf Wasserrationierungen angewiesen. In Pakistan hat eine verehrende Flut rund ein Drittel der Landesfläche erfasst und große Anbauflächen zerstört. 30 Millionen Menschen sind von den Folgen dieser Umweltkatastrophe betroffen. In vielen Ländern kann keine dauerhafte Stromversorgung mehr garantiert werden.

Die Auswirkungen dieser Klimakatastrophe auf die Lebensmittelpreise, die die diesjährige – früher einmal Sommer genannte – Hitze- und Flächenbrandsaison auf der Nordhalbkugel nach sich ziehen wird, werden viele Millionen Menschen weltweit in existenzielle Not stürzen. Und es handelt sich um eine kapitalistische Klimakrise, da Kapital in seinem Verwertungszwang außerstande ist, den weltweiten CO2-Ausstoß zu senken: Nur Weltwirtschaftskrisen konnten im 21. Jahrhundert kurzfristig zu einer Reduktion führen. Und so wird, laut der Internationalen Energieagentur (IEA), die globale Emission von Treibhausgasen, nach ihrem Rückgang während der Pandemie, schon in diesem Jahr das Vorkrisenniveau und 2023 ihren historischen Höchststand erreichen. Eine Trendwende, so IEA, sei nicht absehbar. Soll die Klimakrise nicht in eine globale humanitäre Katastrophe und Barbarei münden, muss das herrschende Kapitalverhältnis daher schnellstens Geschichte werden.

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Inzwischen verstehen die meisten, dass endloses Wirtschaftswachstum in einer endlichen Welt Irrsinn ist und dass die spätkapitalistische Gesellschaft auf einen Abgrund zusteuert – mit Ausnahme der Linkspartei samt der mittlerweile offen reaktionären Teile dessen, was sich deutsche Linke nennt. In der derzeitigen existenziellen Krise fordern ihre Vertreter nicht weniger, sondern mehr fossile Energieträger. Sahra Wagenknecht, die Lieblingslinke der deutschen Rechten, plädierte gemeinsam mit dem FDP-Rechte Wolfgang Kubicki schon Mitte August für die Inbetriebnahme der Nord Stream 2 Gaspipeline, weil die „Menschen und Industrie in Deutschland“ mehr nütze als Putin.

Damit ist Wagenknecht ehrlicher als der Großteil ihrer Partei, der nach dem diesjährigen Horror-Sommer auch noch einen „heißen Herbst“ der Sozialproteste ankündigte. Dort soll in sozialdemokratischer Tradition statt der Systemfrage, die sich in der ökosozialen Weltkrise des Kapitals manifestiert, die Umverteilungsfrage gestellt werden. Die Antwort der Linkspartei auf die beginnende Klimakatastrophe ist ein sozial gerechterer Kapitalismus. Der Co-Vorsitzende Martin Schirdewan formulierte es im ARD-Sommerinterview folgendermaßen: Man wolle eine „gerechte Verteilung der Lasten der zu erwartenden Krise“ und hoffe, der „heiße Herbst“ werde „die Bundesregierung unter Druck … setzen“, einen „Gaspreisdeckel“ und eine „Übergewinnsteuer“ für krisenbedingte Extraprofite einzuführen.

Was die Linkspartei derzeit betreibt, führt die vom Absturz bedrohten Menschen bewusst in die Irre. Sie ignoriert, dass die Systemkrise, die sich nicht nur in der beginnenden Klimakatastrophe, sondern auch in der Großkriegsgefahr in Europa, in der Ressourcen- und Energiekrise, in der globalen Schuldenkrise, in der anstehenden Rezession abzeichnet, als ein fetischistischer Weltprozess abläuft. Stattdessen macht sie ein paar „Ober-Bösewichte“ (etwa ausländischer Energiekonzerne) für die Weltkrise verantwortlich, die sie mit höheren Steuern oder Umverteilung bekämpfen will. In Anlehnung an Wagenknechts Linkskonservatismus predigt sie die Rückkehr zur „sozialen Marktwirtschaft“. In der Hoffnung, koalitions- und damit regierungsfähig zu erscheinen, geht sie auf die Straße und entschärft dort das anwachsende Protestpotenzial: Den Mythos von einer grünen Transformation des Kapitalismus, von einem Green New Deal, der den Wahlerfolg der Grünen begründet, erweitert die Linkspartei um eine soziale Komponente. Die grüne Schimäre vom Ökokapitalismus, die der Öffentlichkeit ermöglicht, an dem Kapitalismus trotz fortgeschrittener Klimakrise festzuhalten, wird um den sozialdemokratischen Unsinn der „Klimagerechtigkeit“ ergänzt. Die Kosten der scheiternden kapitalistischen Klimapolitik sollen gerecht verteilt werden. Diese Sozialkampagne soll auch dafür sorgen, dass die Skandale der letzten Jahre – von Wagenknecht, über Porsche-Klaus, bis zu sexuellen Übergriffen – vergessen werden und die Partei bei den nächsten Wahlen über der Fünf-Prozent-Hürde bleibt. Deswegen fokussieren sich die sozialpolitischen Attacken der Linken nicht auf Scholz oder die SPD, sondern auf die FDP, die die Linkspartei beerben will.

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Es war die SPD als die Partei des „kleinen Mannes“, die mit der Agenda 2010 und Hartz IV das größte Entrechtungsprogramm Lohnabhängiger in der Geschichte der BRD durchsetzte, und es waren die „pazifistischen“ Grünen, die den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien führten. Es ist oftmals die Aufgabe „linker“ Parteien im Spätkapitalismus, reaktionäre Politik zu implementieren. Durch ihre enge Verflechtung mit betroffenen Schichten, Bewegungen oder Organisationen sind sie in besonderem Maße in der Lage, oppositionelles Potenzial einzuhegen. Voraussetzung hierfür ist, dass radikale Kritik innerhalb der eigenen Reihen marginalisiert wird. Lautstark wird Umverteilung verlangt und zum „Klassenkampf“ aufgerufen.

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Hinter diesem Geschrei verstummt der Einwand, dass sich die Krise nur durch die Überwindung des Kapitalismus bewältigen ließe. Diejenigen Kräfte, die den aktuellen Krisenschub als ein Karriereticket für Rot-Rot-Grün betrachten, müssen das „Krisengerede“ marginalisieren, weil es – im Gegensatz zur Verteilungsdebatte – mit dem Politbetrieb, in dem man was werden will, nicht kompatibel ist. Die Konzentration auf die irrelevant gewordene „Interessenpolitik“ lenkt ab vom selbstzerstörerischen Fetischismus des Kapitals in all seinen Aggregatszuständen.

Diese Ignoranz großer Teile der Linken gegenüber den Ursachen und Abläufen der aktuellen Krise ist verantwortlich für ein immer deutlicher sich abzeichnendes innerlinkes Konkurrenzverhältnis. An der Klimakrise etwa, die im „heißen Herbst“ kaum eine Rolle spielen soll, muss eine Bewegung, die sich auf die Identifikation von Klasseninteressen beschränkt, scheitern. Diese Krise wird nur verständlich, wenn man die destruktive Eigendynamik des Kapitals und die Ohnmacht der kapitalistischen Funktionseliten mit einkalkuliert. Durchaus problematische klimabewegte Gruppen wie „Die letzte Generation“ werden von reaktionären Linken aufgrund ihrer Straßenblockaden kritisiert, weil sie Lohnabhängige von Arbeit abhielten und damit den Verwertungsprozess des Kapitals unterbrachen. Es sind oft genau diese Linken, die nichts dabei finden, wenn wie am 05. September in Leipzig Linkspartei und Nazis in Sachen sozialpolitischer Demagogie in Konkurrenz treten.

Diese innerlinke Konkurrenz, bei der das Klasseninteresse der Lohnabhängigen in offenkundigem Widerspruch zum Klimaschutz steht, erwächst nicht nur aus dem opportunistischem Kalkül der national-sozialen und gewerkschaftsnahen Strömungen der Linkspartei, sondern auch aus einer allgemeinen Regression und der reaktionären Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der die Bolschewiki-Parolen noch Gültigkeit besaßen. Man demonstriert für „Heizung, Brot und Frieden“ und fühlt sich dabei wie ein Nachwuchs-Lenin, ist aber tatsächlich nur Wasserträger des Opportunismus der Linkspartei. Rockin‘ like it’s 1917! Das ist allerdings nur möglich, wenn man die Systemkrise zu Klassenkampf und sozialer Frage umgedichtet hat. Ignoranz und ideologische Verblendung sind die Voraussetzung für die einzige innerlinke Bewegung, die ein wirkliches Interesse an der Marginalisierung von Krisentheorie hat: für die opportunistische Linke.

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Von den Mahnwachen für den Frieden des Jahres 2014, über die jahrelangen Werbekampagnen Wagenknechts für AfD und Neue Rechte, bis zu den Querdenker-Protesten während der Pandemie: In der Linken bildete sich in den letzten Jahren eine große Querfrontszene aus, die auch bei den anstehenden Sozialprotesten kaum Berührungsängste zur Rechten haben dürfte. Wie weit die Offenheit nach rechts mittlerweile gediehen ist, wurde gerade bei den Paralleldemos in Leipzig offensichtlich, wo Zeitungsverteiler der „jungen Welt“ ganz selbstverständlich in der Nazi-Kundgebung ihre Waren an den deutschen Mann brachten und Mitglieder der Querfronttruppe „Freie Linke“ gut sichtbar an der Kundgebung der brav sozialdemokratischen Linkspartei teilnehmen konnten. Die Querfrontpartei Die Basis war bei Linkspartei-Protesten vor der Grünen-Zentrale ebenfalls dabei. Die Auseinandersetzungen um die Mobilisierung zu der „Montagsdemo“, die auf Initiative eines wagenknechtnahen Bundestagsabgeordneten der Linkspartei erfolgte, wie auch die Ausladung Wagenknechts als Rednerin (sie wurde von Nazis in Sprechchören während der Kundgebung herbeigesehnt), legen die Vermutung nahe, dass ein rechtsoffener Opportunismus, der selbst an den krisenbedingt aufkommenden Präfaschismus anzuknüpfen sucht, derzeit in der Linkspartei (noch) nicht mehrheitsfähig ist.

Dass der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow den Auftritt Sarah Wagenknechts in Leipzig verhindert haben soll, gäbe Anlass zur Hoffnung, hätte Ramelow nicht 2020 ganz bewusst einen AfD-Politiker zum Landtagsvizepräsidenten wählte, um der AfD die „parlamentarische Teilhabe“ zu ermöglichen. Letztendlich handelt es sich bei all diesem um parteiinterne Reibereien zwischen jenen, die auf Rot-Rot-Grün setzen, und jenen, bei denen das verkürzte Klassenkampfdenken zum rechtsoffenen Populismus degeneriert ist.

Es bleibt aber ein wichtiger, keinesfalls banaler Unterschied zwischen der sozialen Demagogie der Linkspartei und der der Neuen Rechten, die in Leipzig am 05. September erstmals in Konkurrenz traten: Die Feindbilder, die von der Linken bemüht werden, sind die mächtigen Konzerne und Funktionseliten, die der Rechten die machtlosen Opfer der Krise. Abgesehen davon eint beide die Krisenblindheit sowie die Tendenz, die Systemkrise durch Personifizierungen und Sündenböcke zu verdrängen. Es ist wahrscheinlich, dass im weiteren Krisenverlauf rechte und linke Krisenideologie eine Verbindung eingehen, deren verkürzte, auf „Interessen“ und die Finanzsphäre verengte Kapitalismuskritik vor allem einen Schuldigen kennt: den Juden

Es existiert ein eindeutiger Indikator, mit dessen Hilfe sich im kommenden Krisenchaos der bis zur Neuen Rechten reichende Opportunismus der Linkspartei von klarer, radikaler Opposition unterscheiden lässt. Eine emanzipatorische Überwindung des Kapitals ist nur bei Ausbildung eines radikalen, kritischen Krisenbewusstseins innerhalb der Bevölkerung möglich, was derzeit vor allem durch die soziale Demagogie der Linkspartei sabotiert wird: Es ist die Thematisierung der Tatsache, dass der Kapitalismus am Ende ist, dass eine Systemtransformation unausweichlich ist und es eine Frage des kollektiven Überlebens ist, den Transformationsprozess in eine fortschrittliche Richtung zu lenken. Daran und an dem anstehenden Kampf um die Systemtransformation hätte sich auch alle konkrete linke Politik zu orientieren, anstatt krampfhaft an den gerade in Auflösung befindlichen Kategorien festzuhalten, um noch ein Plätzchen im Regierungsbunker bei der drohenden Krisenverwaltung zu ergattern.

Tomasz Konicz schrieb in konkret 9/22 über die Alternativimperialisten

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