„Junge Welt“, 18.07.2008
Angesichts steigender Energie- und Rohstoffpreise und einer hohen Inflation will sich die Ukraine wieder als »Kornspeicher der Welt« positionieren
Die ausufernde Inflation bringt die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko zusehends in Erklärungsnot. Die Regierung könne für die beständig steigenden Brotpreise nicht verantwortlich gemacht werden, erklärte die Premierministerin in der vergangenen Woche gegenüber dem Fernsehsender Inter. Ihre Koalition habe vielmehr zu einem Abebben der Teuerungswelle im Juni beigetragen. Die lokalen Entscheidungsträger, so Timoschenko, trügen die Verantwortung für die gestiegenen Brotpreise.
Prognose korrigiert
Tatsächlich nimmt die Inflation in der Ukraine inzwischen bedrohliche Dimensionen an. Am 5. Juli mußte die vom prowestlichen Block Julia Timoschenko und der Präsidentenpartei Unsere Ukraine getragene Regierung ihre Inflationsprognose für 2008 abermals erhöhen, von 15,3 auf 15,9 Prozent. Die den Endverbraucher besonders betreffenden Preissteigerungen bei den Gütern des täglichen Bedarfs erreichten im Mai sogar 31 Prozent. In ihrem Kampf gegen diese, die makroökonomische Stabilität des Landes gefährdende Teuerung hob die Ukrainische Nationalbank den Leitzins inzwischen auf stolze zwölf Prozent an.
Auch in der Ukraine wird die Inflation hauptsächlich durch die explodierenden Preise für Nahrungsmittel und Energieträger getrieben, vor allem, weil die vergangene Ernte aufgrund einer langanhaltenden Dürre in der Ukraine besonders schlecht ausfiel. Wie in vielen anderen osteuropäischen Nachbarstaaten der EU. Im dem zur statistischen Berechnung der Lebenshaltungskosten herangezogenen Warenkorb machen Lebensmittel 50 Prozent der Ausgaben ukrainischer Konsumenten aus (in Deutschland zwölf), und deren Preise sind im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um schwindelerregende 48,5 Prozent gestiegen.
Bislang konnten diese inflationären Tendenzen das robuste Wirtschaftswachstum nicht ernsthaft gefährden. Im Ersten Halbjahr 2008 konnte das südosteuropäische Land eine Steigerung des Bruttosozialprodukts um 7,2 Prozent verzeichnen, vor allem aufgrund der Zuwächse im Groß- und Einzelhandel. Letzterer profitiert von den trotz Inflation binnen Jahresfrist um 18 Prozent gestiegenen Realeinkommen sowie dem anhaltenden Kreditboom.
Auch der Industriesektor konnte ein Plus von fast zehn Prozent verbuchen, wobei besonders die Schwerindustrie von der guten globalen Nachfrage nach Stahl profitieren konnte. Doch auch hier mehren sich die Probleme. So klagen viele Industriezweige über erhöhte Rohstoff- und Energiepreise. Die Ukraine ist in diesem Bereich nahezu vollständig von russischen Lieferungen abhängig, und die von Moskau durchgesetzten saftigen Preiserhöhungen der vergangenen Jahre dürften gewichtigen Einfluß auf die Inflationsrate gehabt haben. Mit Bangen wird daher auch der 15. September erwartet. An diesem Tag soll das Ergebnis der Gaspreisverhandlungen für die Lieferperiode ab 2009 bekanntgegeben werden.
Geringe Erträge
Vor diesem Hintergrund ist eine gewisse Rückbesinnung auf die heimische Landwirtschaft zu beobachten. Man wolle den »Ruf der Ukraine als Kornspeicher der Welt« wiederherstellen, erklärte Timoschenko anläßlich einer Visite in landwirtschaftlichen Betrieben Anfang Juli. Das Land verfügt über einen breiten Schwarzerdegürtel, der sich auf 56 Prozent der Fläche erstreckt und zu den fruchtbarsten Böden der Welt zählt. Das Landwirtschaftsministerium geht davon aus, daß die Getreideernte in diesem Jahr bei 40 Millionen Tonnen liegen wird, während es 2007 nur 29 Millionen waren. Angesichts der global explodierenden Getreidepreise hofft die Regierung auf wachsende Exporterlöse, die das chronische Handelsdefizit senken und die Inflation im Lande bremsen könnten.
Die Landwirtschaft leidet noch immer unter den Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Seit 1990 sind die Ernteerträge um durchschnittlich 50 Prozent gesunken. Die landwirtschaftliche Ausbeute pro Hektar Getreidefläche erreicht nur magere 35 Prozent des westeuropäischen Niveaus. Mit moderner Technologie könnte die Ukraine ihre Erträge »verdoppeln oder sogar verdreifachen« und so ein Siebtel der weltweiten Getreideproduktion erwirtschaften, erklärte der ukrainische Landwirtschaftsminister Juri Melnjk gegenüber der Financial Times (FT) Ende Juni. Das Londoner Wirtschaftsblatt berichtete in diesem Zusammenhang, daß das Land immer stärker ins Blickfeld der großen westlichen Agrokonzerne gerate: ‚Wenn alle ukrainischen Farmen die Erträge produzieren würden, die wir haben, könnte dieses Land einen große Rolle bei der Ernährung der Welt spielen und sich als eine geopolitische Großmacht etablieren‘, erklärte Richard Spinks, der Vorsitzende des britischen Agrounternehmens Landkom, gegenüber der FT.