„Junge Welt“, 22.07.2008
In den osteuropäischen Vorzeigeländern frißt die Inflation allmählich das Wirtschaftswachstum auf. Finanzspekulanten verschärfen die Krise
Der neue Vorsitzende der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Thomas Mirow, richtete in seinen ersten Interview für die Financial Times Anfang Juli eine eindeutige Warnung an die Regierungen Osteuropas. Laut Mirow könnte das schnelle Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre in einer Reihe von Ländern Osteuropas durch die sich beschleunigende Inflation »hintertrieben« werden. »Wir müssen realisieren, daß die Inflation das Potential hat, die Fortschritte zu zerstören, die in vielen dieser Länder gemacht wurden.«
Leitzinsen steigen
Die mit Abstand höchste Teuerungsrate im postsowjetischen Raum weist derzeit die Ukraine mit 31 Prozent auf, gefolgt von Kasachstan mit knapp 20 sowie Rußland und Belarus, die eine jährliche Inflation von jeweils 15 Prozent verzeichnen. Da aber ein Großteil dieser Steigerungen durch die erhöhten Energie- und Lebensmittelpreise bedingt ist, müsse laut Mirow zwischen den Ländern unterschieden werden, die diese Waren exportieren – wie beispielsweise Rußland – und jenen, die für diese Importe immer mehr zu zahlen hätten.
Innerhalb der EU sind es vor allem die baltischen Staaten, die am stärksten von dieser Teuerungswelle betroffen sind. In Lettland erreichte der Preisschub im Jahresvergleich inzwischen 18 Prozent, in Litauen 13 und Estland 12 Zähler. Auch alle anderen osteuropäischen EU-Länder liegen weit über dem EU-Durchschnitt von 4,3 Prozent.
Die Auswirkungen der Kostensteigerungen sind in Osteuropa für das Gros der Bevölkerung aufgrund des niedrigen Lohnniveaus besonders verheerend. Die Nahrungsmittel- und Energiepreise haben einen größeren Anteil an dem statistischen »Warenkorb«, mit dem die Inflation berechnet wird. Zudem führt der EU-Binnenmarkt dazu, daß die erhöhte Nachfrage im westeuropäischen Zentrum der Wirtschaftsunion unmittelbar auf die Preise in den Nachbarstaaten durchschlägt. Ein Löwenanteil der nominell beeindruckenden Lohnzuwächse in Osteuropa wird so wieder aufgezehrt.
Die Zentralbanken nahezu aller Länder dieser Region reagieren in klassisch monetaristischer Weise auf die Entwicklung. Sie heben die Zinsen an, um damit die Zufuhr »frischen Geldes« in ihre Ökonomien zu bremsen. So erhöhte Polen, bei einer offiziellen Inflation von 4,4 Prozent, den Leitzins unlängst auf sechs Prozent, in Ungarn stieg er sogar auf 8,75 Prozent. Diese Maßnahme wird nicht viel bringen, da die Inflation ihre Ursache nicht in einer »zu laxen« Geldpolitik, sondern in der Preisexplosion für Lebensmittel und Energieträger hat. Erreicht wird dagegen, daß die kreditfinanzierte Binnennachfrage – das wichtigste Fundament des Wachstums in den meisten osteuropäischen Staaten – deutlich absackt. Zudem dürften die steigenden Zinsen auch den Immobilienmarkt beeinträchtigen und viele private Hypothekennehmer in die Bredouille bringen. So wuchs die Gesamtsumme privater Kredite allein im vergangenen Jahr in Bulgarien um 62 Prozent, in Rumänien waren es 60,4 Prozent. Im Baltikum stieg die private Verschuldung um 45 Prozent, und Polen kam auf 39,4 Prozent. Eine derartig expansive Ausweitung der kreditfinanzierten Nachfrage wird für Osteuropas Konsumenten künftig nicht mehr möglich sein.
Tückische Aufwertung
Doch es droht noch weiteres Ungemach. Aufgrund sinkender Nachfrage aus Westeuropa erlebte die industrielle Dynamik einige Volkswirtschaften der Region regelrechte Einbrüche. Das Wachstum des Industriesektors in Ungarn sackte – ebenfalls im Jahresvergleich – von 11,8 Prozent im April auf 2,2 Prozent im Mai ab. In der Slowakei fiel es im selben Zeitraum von 9,8 Prozent auf 4,0 Prozent. Selbst in Polen fiel die Wachstumsrate der Industrieproduktion von 10 auf 7,2 Prozent.
Für Finanzspekulanten sind derartige Entwicklungen natürlich sehr interessant. So haben von der »Finanzkrise geplagte Investoren« auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten neben den Warenterminbörsen für Getreide und Energieträger auch die Währungen Osteuropas ins Visier genommen, berichtete am 18. Juli die Neue Zürcher Zeitung. Die im EU-Vergleich nominell höheren Wachstumsraten ließen weitere Aufwertungen des polnischen Zloty, der tschechischen Krone oder des ungarischen Forint erwarten. Inzwischen stehen – im Zuge dieser wenig beachteten Spekulation auf den Devisenmärkten – all diese Währungen auf historischen Höchstsänden gegenüber dem Euro und Dollar. So konnte die tschechische Krone gegenüber dem Dollar um 13 Prozent allein seit Jahresanfang zulegen, die slowakische Krone um 9,8 Prozent. Das verteuert osteuropäische Exporte in den Euro- und Dollarraum und belastet die Zahlungsbilanz. Auch der entlastende Effekt, den die aufgewerteten Währungen für die Preise importierter Waren bringen, dürfte bald verpuffen. Aufgrund der einsetzenden konjunkturellen Eintrübung in Osteuropa kann von einem baldigen Ende dieser Rallye auf den Devisenmärkten ausgegangen werden, sodaß die inflationäre Dynamik sogar noch weiter zunehmen könnte.