„Junge Welt“, 08.06.2007
Millionen Wirtschaftsemigranten verließen seit dem EU-Beitritt das osteuropäische Land. Unternehmen des Niedriglohnsektors klagen über Arbeitskräftemangel
Polens Regierung gab sich stolz: Offiziell sei die Arbeitslosenquote Ende Mai in Deutschlands östlichem Nachbarstaat auf »nur noch« 13,1 Prozent gesunken, teilte das Arbeitsministerium Anfang Junimit. Dessen Sprecher bekräftigte gegenüber der Presse, daß die Erwerbslosigkeit im Rekordtempo schrumpfe. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum war die offizielle Quote um 3,4 Prozentpunkte niedriger, beim EU-Beitritt Polens im Mai 2004 wurden sogar nahezu 20 Prozent ermittelt. Sollte sich diese Tendenz ungebrochen fortsetzen, könne man gegen Jahresende mit lediglich noch elf Prozent Erwerbslosigkeit rechnen, zitiert die polnische Wirtschaftszeitung Plus Biznesu das Arbeitsministerium.
Polnisches Wunder
Mit den Ursachen dieses »polnischen Wunders« beschäftigt eine kürzlich vom Wirtschaftsministerium in Warschau veröffentlichte Studie. Deren Autoren widmeten sich der nach dem EU-Beitritt zu einem Massenphänomen gewordenen Arbeitsemigration aus Polen ins westeuropäische Ausland. Laut Schätzungen der Verfasser arbeiten inzwischen etwa 1,2 Millionen Polen saisonal oder ganzjährig im Ausland. Andere Institutionen nennen sogar weitaus höhere Zahlen: Das Arbeitsministerium spricht von zwei Millionen Auswanderern, die Wochenzeitung Polityka meldete gar an die vier Millionen Arbeitsemigranten.
Der Studie zufolge arbeiten über 500000 Polen in der BRD. Die überwiegende Mehrheit von ihnen schlägt sich als Saisonkraft in der Landwirtschaft durch. Der Emigrationsreport geht davon aus, daß nur »wenige zehntausend« Polen dauerhaft in Deutschland beschäftigt sind. In Großbritannien jobben der Studie zufolge 264000, in Irland 100000 polnische Auswanderer, die sich dort zumeist dauerhaft niedergelassen haben sollen. Polnische Arbeitsmigranten seien auch in Frankreich (90000) und Italien (72000) tätig, heißt es. Selbst bei Berücksichtigung der vorsichtigen Schätzungen des Wirtschaftsministeriums ist anzunehmen, daß drei Prozent der Gesamtbevölkerung Polens inzwischen ihren Lebensunterhalt außerhalb des Landes verdienen. Und der Migrationsstrom ist immer noch voll in Bewegung.
Stagnierendes Lohnniveau in Deutschland und niedrige Entlohnung in der Landwirtschaft bewirkten, daß inzwischen viele polnische Saisonarbeiter in andere Länder gezogen sind. Am 30. Mai klagte der Deutsche Bauernverband über einen Mangel an polnischen Saisonkräften. Verbandssprecher Michael Lohse erklärte: »Wir haben viele erfahrene Leute an das europäische Ausland verloren.« Zahlreiche Erntehelfer aus Polen gingen demnach lieber nach Großbritannien oder in die Niederlande, wo sie höhere Löhne erhalten. »Wir haben bis zu 30 Prozent Stornierungen polnischer Erntehelfer«, sagte Heinrich Alt, Stellvertreter des Chefs der Bundesagentur für Arbeit, dem Onlineportal agrarheute.com.
Mangel an Billigkräften
Nicht nur der deutsche Hungerlohnsektor ist von der wachsenden Mobilität polnischer Spargelstecher betroffen. Die Massenabwanderung zeitigt auch gravierende Auswirkungen auf die polnische Wirtschaft. Zum einen fällt es vielen Unternehmen immer schwerer, Arbeitskräfte zu finden, die für die in vielen Branchen üblichen Niedriglöhne arbeiten wollen. McDonald’s Polska startete unlängst eine Werbekampagne, mit der rüstige Rentner als Arbeitskräfte geworben werden sollten, um sich »zur Rente etwas dazuzuverdienen«. Über einen ernsthaften Arbeitskräftemangel berichtet vor allem das Baugewerbe. Im Dienstleistungssektor häufen sich ebenfalls die Klagen von Unternehmen, die niemanden finden, der bereit wäre, für umgerechnet 250 Euro als Kellner oder Putzfrau zu arbeiten.
Als ein schwerwiegendes Problem für Polens ökonomische Entwicklung machen die Autoren der Migrationsstudie insbesondere den Verlust hochqualifizierter Arbeitskräfte aus. Diese wurden mit erheblichem Aufwand in Polen ausgebildet, wandern nun in Scharen gen Westen. In einer Anfang April veröffentlichten Erhebung gaben z. B. nur 20 Prozent aller befragten Medizinstudenten an, nach Studienabschluß überhaupt in Polen bleiben zu wollen. Zukünftige Informatiker oder Ingenieure zieht es ebenfalls mehrheitlich nach London oder Dublin, statt nach Warschau oder Poznan. Generell trägt sich laut einer Umfrage der polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza jeder zweite Pole im Alter zwischen 18 und 24 Jahren mit dem Gedanken, ins Ausland zu gehen. Anfang Juni meldete die Financial Times, daß inzwischen 375000 Polen legal in Großbritannien arbeiten – 100000 mehr als im Untersuchungszeitraum der Studie des Wirtschaftsministeriums, der im Februar 2007 endete. Die Emigrationswelle rollt weiter.
Parallel zur Abwanderung einheimischer Arbeitskräfte nach Westen verstärkt sich ein Migrationsstrom aus Osteuropa auf den polnischen Arbeitsmarkt. Neueste Schätzungen gehen davon aus, daß inzwischen an die 300000 Schwarzarbeiter aus der Ukraine in Polen arbeiten – auf dem Bau, als Erntehelfer oder als Hauhaltshilfen. Im Vorfeld der von Polen und der Ukraine gemeinsam auszutragenden Fußballeuropameisterschaft 2012 sollen sogar massenhaft Arbeitsvisa an ukrainische Bauarbeiter vergeben werden, um die geplanten Stadien und die entsprechende Infrastruktur rechtzeitig errichten zu können.