„Junge Welt“, 28.12.06
Rußland und der postsowjetische Raum: Spannungen und Konflikte nehmen zu
Beim Rückblick auf die 2006 erfolgten geopolitischen Verschiebungen und Umbrüche im postsowjetischen Raum kommt sicherlich der ökonomischen Konsolidierung Rußlands eine zentrale Bedeutung zu. Im Gefolge des durch die hohen Rohstoffpreise bewirkten Wirtschaftsaufschwungs des Riesenlandes war im vergangenen Jahr eine Zunahme von Spannungen und Konflikten in der Region zu beobachten. Sein zunehmendes ökonomisches Gewicht in die Waagschale werfend, ging der Kreml daran, beim geopolitischen Käftemessen in den vergangenen Jahren an den Westen verlorenes Terrain wieder zu gewinnen.
Schlag mit der »Gaskeule«
Ein Paradebeispiel für praktische, machtpolitische Umsetzung des vom Kreml formulierten Konzepts der »Energiegroßmacht Rußland«, war der Gasstreit zwischen der Ukraine und Rußland, der ab Jahresanfang 2006 auch zu Lieferverzögerungen in Westeuropa führte. Anfang 2005 gelang es im Rahmen einer vom Westen finanzierten »orangen Revolution«, in die Ukraine zeitweilig Kräfte an die Schalthebel der Macht zu spülen, die entschieden auf die Westintegration des Landes setzten – mitsamt angestrebtem Beitritt zur NATO und EU. Der Gegenschlag des Kreml erfolgte im Januar 2006, als die prowestliche Regierung der Ukraine sich weigerte, einer Vervierfachung des Preises für russisches Gas auf 230 US-Dollar zuzustimmen. Rußland ließ folglich ab dem 1. Januar die Gaslieferungen an die Ukraine einstellen, so die Abhängigkeit der Ukraine und auch des Westens von russischen Rohstoffen demonstrierend. Letztendlich mußte die ukrainische Seite den russischen Gaspreis akzeptieren, sie konnte nur durch den Zukauf billigen zentralasiatischen Erdgases die Preissteigerung in Grenzen halten.
Dennoch markieren die mit dem Gasstreit einhergehenden Versorgungsengpässe einen Wendepunkt in der ukrainischen Innenpolitik, da ab diesem äußerst »kalten« ukrainischen Winter die Popularität der prowestlichen Kräfte beständig abnahm, bis schließlich die prorussische »Partei der Regionen« der ostukrainischen Oligarchie um Viktor Janukowitsch im Juli 2006 an die Macht gelangte.
Inzwischen etablierte sich der Einsatz dieser »Gaskeule« als ein Standardwerkzeug russischer Außenpolitik, neben der Ukraine mußten sich Georgien, Moldawien und neuerdings auch Belarus mit einer Vervielfachung der russischen Gaspreise auseinandersetzen. Zudem geht Rußland verstärkt dazu über, seinen – durch steigende Kaufkraft an Bedeutung gewinnenden – Binnenmarkt als außenpolitisches Machtmittel einzusetzen. Gegen die Ukraine wurde bis zur Abwahl der prowestlichen Kräfte ein Importverbot für Lebensmittel verhängt. Von ähnlichen Restriktionen sind auch Georgien und Moldawien betroffen, die sich ebenfalls um eine Westintegration bemühen. Ein russisches Embargo für polnische Fleischprodukte ließ den Export des Landes um zehn Prozent einbrechen.
2006 verstärkte schließlich der Kreml seine Unterstützung für etliche abgespaltene Territorien in westlich orientierten, postsowjetischen Staaten. In Georgien sind es Südossetien und Abchasien, in Moldawien ist es Transnistrien, die fest mit der Unterstützung des Kreml rechnen können. Diese seit dem Zerfall der Sowjetunion »eingefrorenen Konflikte« bergen weiterhin das höchste, akute Konfliktpotential im postsowjetischen Raum.
Einen weiteren Einflußverlust mußte der Westen auch in Zentralasien hinnehmen. Schon 2005 wurden die US-Militärstützpunkte in Usbekistan geschlossen. In diesen Jahr war der letzte zentralasiatische Stützpunkt der US-Airforce bedroht, da Kirgisien eine Verhundertfachung der Pachtzahlungen der Amerikaner auf 200 Millionen US-Dollar erreichen wollte. Die USA sicherten sich vorerst ihre Präsenz in diesem strategisch günstig gelegenen Gebiet, indem sie im Juli einer Pacht von 150 Millionen US-Dollar jährlich zustimmten.
Das Moment eines erfolgreichen Zurückdrängens des westlichen Einflusses in der Region ausnutzend, reagierte Moskau auch äußerst scharf auf die Provokationen der westlich orientierten Führung Georgiens, als mehrere russische Offiziere unter dem Vorwand der »Spionage« festgenommen wurden. Rußland ließ eine umfassende Blockade gegen das südkaukasische Land verhängen, die der gesamten Region die enorme ökonomische Abhängigkeit von Rußland demonstrierte.
Einschränkend müssen die klar erkennbaren Mängel der russischen Ökonomie beachtet werden, die sich am besten unter dem Begriff des Investitionsmangels zusammenfassen lassen. Die gesamte Infrastruktur der russischen Föderation ist veraltet, über Jahrzehnte nicht erneuert und größtenteils als Erbmasse der Sowjetunion anzusehen. Mängel in der energetischen Infrastruktur des Landes könnten nicht nur die Versorgungssicherheit Westeuropas gefährden, sondern auch die Strategie des Aufbaus einer »Energiegroßmacht« Rußland.
Innenpolitisch muß der stürmische Aufstieg des russischen Nationalismus und Faschismus als besorgniserregende Entwicklung registriert werden. Dutzende von Ausländern sind 2006 in Rußland von militanten Faschisten und Skinheads ermordet worden. Unübersehbar ist ebenfalls ein imperiales Gebaren der russischen Machteliten, das zukünftig wohl auch das um seine Unabhängigkeit kämpfende Belarus zu spüren bekommen wird. Da der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko sich beharrlich weigert, das Pipelinenetz des Landes an den russischen Staatsmonopolisten Gasprom zu verscherbeln, fordert Moskau eine Vervierfachung des Gaspreises ab 2007.
Die GUS zerfällt
Zusammenfassend ist eine Eindämmung westlichen Einflusses im postsowjetischen Raum im Jahr 2006 festzustellen. Rußland muß dennoch nicht zwangsläufig zu einer hegemonialen Macht in der Region aufsteigen. Etliche der ehemaligen Sowjetrepubliken sind darum bemüht, ihre Unabhängigkeit zu wahren, hierfür stehen Belarus und das zentralasiatische Kasachstan, das dank reicher Rohstoffvorkommen zum selbstständigen und selbstbewußten regionalen Akteur aufsteigen will. Der fortschreitende Zerfall der GUS, der »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten«, einem aus der Sowjetunion hervorgegangenen, losen Bündnissystem mit Moskau als dem integrativen Zentrum, illustriert – trotz aller ökonomischen Machtmittel – diese mangelnde Hegemonialkraft Rußlands nur zu deutlich. Selbst die neue ukrainische Führung will ihr Land keinesfalls in eine vasallenähnliche Abhängigkeit zu Rußland führen, sondern bei Wahrung der nationalen Unabhängigkeit die Zusammenarbeit mit Moskau intensivieren.