Aus „Junge Welt“ vom 01.09.06
Polens neuer Premier bei EU-Visite um Verbesserung der Beziehungen bemüht
Die Europäische Union sei eine Wertegemeinschaft, und er habe gegenüber dem polnischen Premier eigene Sorgen über die Entwicklung in Polen zur Sprache gebracht, erklärte der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am Mittwoch. Mit seiner ersten Auslandsreise, die ihn ins Brüsseler Machtzentrum der EU führte, war Polens neuer Premier Jaroslaw Kaczynski vor allem bemüht, den Ruf seines Landes zu verbessern. Die Berichte über homophobe oder antisemitische Tendenzen, über eine EU-feindliche Stimmung innerhalb der polnischen Regierung erklärte Kaczynski zu »Erfindungen der Medien« und lud die im Pressezentrum versammelte Journalistenschar zu ausführlichen Besuchen in den (Schwulen-)Klubs Warschaus ein.
In westeuropäischen Medien werden der polnischen Regierung aber nicht nur Tendenzen zu Schwulenfeindlichkeit und Antisemitismus, sowie Absichten zur Wiedereinführung der Todesstrafe vorgeworfen, die konservativ-rechtspopulistische Koalition hat sich außerdem gegen die Essenz der »Europäischen Werte« versündigt. So bezeichnete Barroso die Unabhängigkeit der Zentralbank und den Minderheitenschutz in einem Atemzug als wahrhaft Europäische Werte, die fortan zu schützen er Polens Premier ermahnt habe.
Während das westeuropäische Feuilleton eine Bedrohung der Menschenrechte in Polen halluziniert, listet die Wirtschaftspresse minutiös die tatsächlichen Verstöße des Landes gegen die Interessen westeuropäischen Kapitals auf: Eine Parlamentskommission untersucht derzeit die wilden Privatisierungen polnischer Banken in den 90ern. Im Zuge der Ermittlungen geriet Polens Vorzeigeliberaler und Präsident der Zentralbank, Leszek Balcerowicz, ins Visier der Kommission, da er seine Wirtschaftsstiftung von den Banken finanzieren ließ, deren Privatisierungsvorhaben er zustimmte. Die derzeitige Regierung will die Gunst der Stunde nutzen, und politische Kontrolle über die Zentralbank gewinnen – für die EU ist dies ein schweres Sakrileg.
Die Liste der polnischen »Vergehen« gegen EU-Werte ist lang: In Warschau ist man bemüht, de facto einen Privatisierungsstopp durchzuhalten und die verbliebenen staatlichen Unternehmen mit Subventionen zu stützen. Der Verkauf der Werft in Gdynia wurde vorerst aufgeschoben und eine Bankenfusion nicht genehmigt. Zudem bemüht man sich an der Weichsel, einen polnischen Bankkonzern aus der Taufe zu heben. Die Einführung des Euro wird von den polnischen Konservativen ebenfalls sehr skeptisch beäugt. In Brüssel war man sichtlich verstimmt, als in Polen demokratische Überlegungen laut wurden, ein Referendum zu dieser Frage anzusetzen. Schließlich opponieren die Kaczynski-Zwillinge gegen das Projekt einer Europäischen Verfassung.
Seine flotten Sprüche in bezug auf Minderheitenschutz und Menschenrechtslage in seinem Land werden Kaczynski sicherlich einige Stimmen seiner erzreaktionären Wählerschaft bei den kommenden Kommunalwahlen in Polen kosten, doch seine westeuropäischen Kritiker werden diese Gesten nicht beruhigen. Schließlich geht es bei diesen Auseinandersetzungen nicht um die Menschenrechte in Polen, die dort sicherlich nicht mehr gefährdet sind als im Deutschland der großen Polizei- und Überwachungsstaatskoalition. Es geht vielmehr um die Unterwerfung polnischer Politik unter die Verwertungsinteressen westeuropäischen – insbesondere deutschen – Kapitals. Wie klein der Spielraum von Regierungen an der östlichen Peripherie der EU inzwischen geworden ist, erschließt sich allein schon daraus, daß diese zaghaften Versuche eigenständiger polnischer Wirtschaftspolitik auf solch eine Empörung »Europas« stoßen.