Kabinett ohne Parlamentsbasis

„Junge Welt“, 11.09.06
Tschechische Minderheitsregierung hat aller Voraussicht nach nur einen Monat Zeit

schechiens neuer Außenminister, Alexandr Vondra, verlor keine Zeit. Schon einen Tag nach seiner Ernennung am 4. September gab er der Prager Tageszeitung Pravo ein ausführliches Interview, in dem er sich besorgt über die aktuelle Entwicklung in Deutschland zeigte: Die von den deutschen Vertriebenenverbänden organisierte Ausstellung »Erzwungene Wege« und das in Berlin geplante »Zentrum gegen Vertreibungen« seien keine Schritte, die die internationale Atmosphäre verbesserten, so der tschechische Außenminister, der mitsamt seiner Regierung die Vertrauensabstimmung im Parlament noch vor sich hat.

Tschechien hat nach einer mehr als dreimonatigen Pattsituation eine neue Minderheitsregierung – zumindest bis zum 4. Oktober. An diesem Tag muß sich das von Mirek Topolanek, dem Chef der konservativen Bürgerpartei (ODS), geführte Kabinett einem Vertrauensvotum des tschechischen Parlaments stellen. Es ist aber mehr als unwahrscheinlich, daß die von Präsident Vaclav Klaus feierlich ernannte Regierung Topolanek diese Abstimmung übersteht, denn die ODS verfügt nur über 81 der 200 Parlamentssitze. Selbst wenn Topolanek die Grünen und Christdemokraten zu einer Duldung seiner Regierung bewegen könnte, stünde die tschechische Politik wieder dort, wo sie sich am Wahlabend fand – beim Patt. Sowohl die rechten Parteien wie auch Sozialdemokraten und Kommunisten verfügen über je 100 Sitze im Parlament.

Die linken Parteien lehnen aber das Kabinett Topolanek prinzipiell ab. Jiri Paroubek, Vorsitzender der tschechischen Sozialdemokraten (CSSD), erklärte kurz nach der Vereidigung der konservativen Minderheitsregierung, daß seine Partei am 4. Oktober gegen diese stimmen werde. Ähnlich äußerten sich die tschechischen Kommunisten.

Topolaneks »Regierungsprogramm« ist äußerst spartanisch. Der ODS-Chef will nur zwei Vorhaben realisieren. Zum einen plant er eine Verfassungsreform, mit der die Anzahl der Parlamentssitze von 200 auf 199 gesenkt werden soll, um dort zukünftig Pattsituationen zu verhindern. Danach würden die Konservativen Neuwahlen ansetzen, die im Frühjahr 2007 stattfänden.

Genau das wollen die linken Parteien verhindern. Laut der neuesten Umfrage des Prager Meinungsforschungsinstituts »Median« könnten die ODS und die Grünen auf satte Stimmengewinne hoffen, während CSSD und Kommunisten mit Einbußen rechnen müßten. Zudem hat Paroubek die Hoffnung auf eine eigene Regierungsbildung noch nicht aufgegeben. Nach der Niederlage Topolaneks im Parlament werde Präsident Klaus nicht umhin kommen, ihn mit der Regierungsbildung zu beauftragen, erklärte Paroubek. Doch ob er dann eine stabile Regierungsmehrheit erreichen könnte, ist fraglich. Die Perspektive vorgezogener Neuwahlen zeichnet sich demnach immer stärker ab, denn laut tschechischer Verfassung müssen Neuwahlen ausgerufen werden, wenn die Parlamentsparteien dreimal an der Regierungsbildung scheitern.

Sollte es dem Sozialdemokraten Paroubek nach dem 4. Oktober wider Erwarten gelingen, eine stabile Regierung zu bilden, so dürften Berliner Diplomaten die Schweißperlen auf die Stirn treten. Als Reaktion auf die vom tschechischen Außenminister an Deutschland geübten Kritik schlug Paroubek vor, das Vorgehen gegen den deutschen Geschichtsrevisionismus mit Polen zu koordinieren. Ein solches Bündnis mit Polen hat bis dahin noch niemand in Tschechien öffentlich vorgeschlagen.

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