Raketenpoker dauert an

„junge Welt“, 06.05.2008
Weiter Tauziehen zwischen Washington und Warschau um Raketenabwehr

Das Tauziehen um die in Osteuropa geplante US-amerikanische Raketenabwehr erfuhr am vergangenen Freitag eine neue Wendung. Ein namentlich nicht genannter »höherer Vertreter der US-Regierung« erklärte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, daß »die Vereinigten Staaten einen anderen Standort für das Projekt der Raketenabwehr suchen werden, falls die Gespräche mit Polen scheitern sollten«. Er sei zuversichtlich, die Gespräche über die Stationierung von zehn Abfangraketen mit Polen doch noch zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen, obwohl noch etliche »harte Streitfragen« ungelöst seien, so der US-Politiker. Doch bei einem etwaigen Scheitern der Verhandlungen werde man Alternativen verfolgen, da »wir einfach mit der Raketenbedrohung fertigwerden müssen«. Insbesondere der Iran stelle nach Aufassung dieses Regierungsvertreters eine »wachsende Bedrohung« dar. Doch es ist vor allem Rußland, das diese Raketenabwehr in unmittelbarer Nähe seiner Grenzen als eine ernste Gefahr wahrnimmt und das Projekt vehement kritisiert.

Als das wichtigste Hindernis auf dem Weg zu einer Vereinbarung gilt in Washington die Forderung Polens nach einer milliardenschweren Militärhilfe, mit der insbesondere die polnische Luftabwehr modernisiert werden soll. Zudem hoffen polnische Diplomaten darauf, auf die scheidende Bush-Administration mehr Druck ausüben zu können, da diese bestrebt ist, die Raketenabwehr noch vor dem Präsidentenwechsel vertraglich zu fixieren. Die Gespräche zwischen Washington und Warschau ziehen sich folglich seit Monaten hin, wobei die Vereinigten Staaten schon Mitte April in Tschechien anfragten, ob Prag damit einverstanden wäre, auch die Abfangraketen auf seinem Territorium zu stationieren, wie die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza berichtete.

In Tschechien soll bereits die zum US-Raketenschutzschild gehörige Radarstation installiert werden, die von der dortigen Bevölkerung entschieden abgelehnt wird. Laut Medienberichten hat die Administration von Premier Mirek Topolanek die inoffizielle Anfrage Washingtons abgelehnt, da eine Raketenstationierung auf noch stärkeren Widerstand der Bevölkerung stoßen würde. Tschechiens Regierung hat als Preis für seine Bereitschaft zur Aufstellung der Radaranlagen keine so weitreichenden Forderungen an Washington wie Polen gestellt und seine Verhandlungen praktisch abgeschlossen. Nach der inoffiziellen Absage Prags scheint Washington mit dem Reuters-Interview Warschau unter Druck setzen zu wollen. Der US-Regierungsvertreter wollte der Agentur zufolge keine konkreten alternativen Standorte für die Abfangraketen nennen, doch wies er darauf hin, daß vor der Entscheidung für Polen und Tschechien auch »andere europäische Länder in Erwägung gezogen« worden seien.

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