»Erste Versuche, öffentliche Aktivitäten zu paralysieren«

Pulbiziert am 10.12.05 in „junge welt“

Gespräch mit Boguslaw Zietek. Über das Ergebnis der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Polen, die ersten Maßnahmen der neuen Regierung, die soziale Situation im Land und die Perspektiven der polnischen Linken

* Boguslaw Zietek wurde am 28. Oktober auf einem Parteitag in Katowice zum Vorsitzenden der Polska Partia Pracy (Polnische Partei der Arbeit – PPP) gewählt

F: Seit der Präsidentschaftswahl am 23. Oktober und der Regierungsbildung durch die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen sind mehrere Wochen vergangen. Welche sozialpolitischen Initiativen hat die PiS angestoßen? Oder war ihr Auftreten als soziale Partei im Wahlkampf bloße Demagogie?

Die PiS gewann die Wahlen, weil sie erkannte, daß auf der Linken viel Platz ist. Deswegen griff sie zur sozialen Rhetorik und stellte das »solidarische Polen« dem »neoliberalen Polen« gegenüber. Die bisherigen Regierungsparteien SLD und SLDP versuchten zwar, sich als Linke zu präsentieren, konnten aber die Verantwortung für ihre neoliberale Politik nicht leugnen. Momentan übt sich die neue Minderheitsregierung um Kazimierz Marcinkiewicz in sozialem Aktionismus. So unterstützt die Regierung die geplante Rentenregelung für Bergarbeiter, doch sie riskiert dabei nichts, da die »Arbeitgeber« demnächst dagegen klagen und es daher noch lange dauern wird, bis sie in Kraft tritt. Sie bewilligt Finanzhilfen für die ärmsten Familien, um den Einfluß solcher Parteien wie der rechtsradikalen LPR, der Liga der Polnischen Familien, und der populistischen Samoobrona, der Selbstverteidigung, einzudämmen. Die Regierung erhöhte die Ausgaben für Kinderspeisungen und die Stipendien für die ärmsten Jugendlichen, sie diskutiert die Anhebung des Mindestlohns und eine erneute Kopplung der Renten an die Inflationsrate. Das ist eine sehr gut durchdachte Strategie der PiS, die einem Ziel dient: Die Unzufriedenen und Enttäuschten, die Wähler von Samoobrona und LPR sollen für die PiS gewonnen und diese beiden Parteien marginalisiert werden. Weder die LPR noch die Samoobrona setzen dieser Offensive der PiS etwas entgegen. Der Chef der Samoobrona Andrzej Lepper ist bereit, alles zu tun, um wenigstens für eine Weile Vizepremier zu werden und seine Partei an der Macht zu beteiligen. Das wird das Ende der Samoobrona sein.

F: Die neue Finanzministerin Polens hat sich gleich zu Beginn ihrer Amtszeit sehr kritisch über westliche Handelskonzerne und deren Supermärkte in Polen geäußert. Welche Rolle spielt das ausländische Kapital in Polen?

Es ist nicht richtig, pauschal zu behaupten, daß ausländisches, in Polen investierendes Kapital schädlich und das heimische Kapital gut sei. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß wir in selbstmörderischer Weise die Übernahme ganzer Sektoren der polnischen Volkswirtschaft, die eine immense strategische Bedeutung für den Staat haben, durch ausländisches Kapital zugelassen haben. Wir haben zu einem Spottpreis den Bankensektor, die Schwerindustire, den Maschinenbau und die Lebensmittelindustrie verscherbelt. Wir verloren oft unter unklaren und mit Affären belasteten Umständen wahre Perlen unter den polnischen Unternehmen: KGHM, einen der größten Kupfer- und Silberhersteller der Welt, die Polnische Telekom (TP), den Versicherungskonzern PZU, den Öl- und Gasversorger PGNiG und viele andere. Auf lang Sicht betrachtet wären die Steuerabgaben und Dividenden dieser Unternehmen weitaus höher als die Erlöse, die Polen aus deren Privatisierung erhielt. Es reicht, daran zu erinnern, daß Mittal Steel Poland nach Übernahme der größten Stahlkombinate einen Gewinn von 1,5 Milliarden Zloty erwirtschaften konnte, von denen eine Milliarde außer Landes geschafft wurde. Die Bilanz der Privatisierung fällt für unser Land äußerst negativ aus.

Über die von westlichen Konzernen betriebenen Super- und Hypermärkte kann nur ein sehr schlechtes Urteil gefällt werden. Obwohl diese Firmen wie Tesco und die Metrogruppe gut verdienen, zahlen sie so gut wie keine Steuern. Sie zerstören die kleinen einheimischen Familienbetriebe. Wir dürfen außerdem nicht vergessen, daß in diesen Firmen die gravierendsten Verstöße gegen das Arbeitsrecht stattfinden. Die Löhne sind dort am niedrigsten, und die rechtliche Position der Beschäftigten ist sehr schlecht.

F: Die neue Regierung scheint einen autoritären innenpolitischen Kurs zu fahren. Sind in Polen die demokratischen Errungenschaften bedroht? Sind die Linke und die Arbeiterbewegung einer verstärkten Repression ausgesetzt?

Wir haben es mit den ersten Anläufen zur Einschränkung der Freiheits- und Bürgerrechte zu tun. Die Verbote von Demonstrationen, die Verbote von Protesten und Streiks, das sind erste Versuche, öffentliche Aktivität zu paralysieren und die Wirksamkeit gewerkschaftlicher Mobilisierung zu beschränken. Der Fall der Kohlezeche »Budryk« ist hier ein gutes Beispiel: Eine staatliche Firma, deren Management das Arbeitsrecht offen bricht, die Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften aussetzt, die rechtmäßigen Proteste der Arbeiterschaft für illegal erklärt, um schließlich die Gewerkschaftsaktivisten, die offiziell rechtlichen Schutz genießen, zu entlassen. Und »Budryk« ist kein Einzelfall.

Streiks und Proteste sind eine gängige Form des Arbeitskampfes. In Polen hingegen verbieten die Gerichte auf Antrag des Managements oft Streiks. Wie sollen nun die Arbeiter für ihre Rechte kämpfen? Indem sie Petitionen schreiben? Wer wagt es noch, die Arbeitsbedingungen zu thematisieren, wenn der Vorsitzende der Gewerkschaft aus dem Betrieb geworfen wird? Wozu brauchen wir noch eine staatliche Arbeitskontrollkommission, wenn das Management einer staatlichen Firma machen kann, was es will? Man sollte gleich offiziell festlegen, daß die Arbeiter und Gewerkschaften nur das dürfen, was die Unternehmer ihnen erlauben – das währe ehrlicher und würde der Realität entsprechen.

F: Bei der Parlamentswahl entschieden sich etwa 100000 Wähler für Ihre Partei, das ist ein knappes Prozent. Führen Sie dieses Ergebnis auf programmatische Mängel oder auf den allgemeinen Zusammenbruch der Linken in Polen zurück?

Die Wahlen waren auf ihre Art etwas Besonderes. Sie waren im Grunde entschieden, bevor die Menschen zu den Wahlurnen gingen. Entschieden wurden sie von den Medien und den Meinungsumfragen. Die PPP schaffte es aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten, die Wähler zu erreichen. Wenn wir die finanziellen Aufwendungen in Relation zu unserem Stimmenanteil setzen, dann zeigt sich, daß wir mit sehr bescheidenen Mitteln eine beachtliche Anzahl von Wählern für uns gewinnen konnten. Das ist selbstverständlich nicht genug. Die PPP wird an den nächsten Kommunalwahlen teilnehmen, und ich bin überzeugt, daß wir dann ein besseres Ergebnis erzielen. Die PPP stellte während der letzten Wahlen ein stimmiges Sozialprogramm vor, das innerhalb der Linken konsensfähig ist. Wir fordern die Anhebung der Mindestlöhne auf 68 Prozent des statistischen Durchschnittslohns, die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und eine allgemeine Erhöhung des Lohnniveaus. Die Steuerprogression muß weiterhin gewahrt bleiben, wobei Spitzenverdiener mit 50 Prozent, Geringverdiener mit zehn Prozent besteuert werden sollten. Bevölkerungsgruppen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, sowie Rentner sollten keine Steuern zahlen. Schließlich propagieren wir die Einführung einen Arbeitslosengeldes, das allen Arbeitslosen ausgezahlt wird. Wir widersprechen allen Versuchen, im Gesundheits- und Bildungswesen kostenpflichtige Strukturen einzuführen. Des weiteren bekämpfen wir die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und strategischer Zweige der polnischen Volkswirtschaft.

Es besteht weiterhin die Chance, das weite Teile der polnischen Linken mit einer glaubwürdigen, programmatischen Alternative vereint auftreten. Wir müssen beweisen, daß ein Wirtschaftsprogramm realisierbar ist, das den arbeitenden Menschen und nicht den Kapitalisten nützt.

F: Wie sehen Sie die Perspektiven der PPP nach der Wahl?

Die PPP wird an allen kommenden Wahlen teilnehmen. Wir werden unsere Wahllisten im gesamten Land registrieren lassen. Bei den letzten Wahlen hat die PPP ihre Wahllisten Organisationen der außerparlamentarischen Linken zugänglich gemacht, unter anderem der Kommunistischen Partei Polens, der Polnischen Sozialistischen Partei und der Antiklerikalen Fortschrittspartei »Racja«. Wir wollen weiterhin mit diesen Gruppierungen auf einer partnerschaftlichen Ebene beim Aufbau einer ehrlichen, glaubwürdigen Linken zusammenarbeiten. Diese Integration soll dank des gemeinsam ausgearbeiteten Programms vertieft werden. Bei den letzten Wahlen haben wir unseren Stimmenanteil verdoppelt. Es gibt Regionen, wie Bydgoszcz oder Bialystok, wo wir an die zwei Prozent der Stimmen erhielten, in anderen Gegenden haben wir an die fünf Prozent erreicht. Dennoch, wir konnten bei weitem nicht überall mit unseren programmatischen Ideen präsent sein, wir wollen das ändern und die Parteistrukturen aktiv aufbauen.

F: In ihrem Programm kritisiert die PPP scharf die Politik und Machtfülle der katholischen Kirche in Polen. Können wir von einem klerikalen Polen sprechen?

Ja, das ist richtig. Kein vernünftig denkender Mensch kann daran zweifeln, daß wir einen weltanschaulich neutralen, laizistischen Staat brauchen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir das Konkordat – das Vertragswerk, das die Beziehungen zwischen Staat und Kirche regelt – neu verhandeln. Die Kirche, die riesige landwirtschaftliche Nutzflächen besitzt und deswegen enorme Agrarsubventionen aus Brüssel einstreicht, darf insbesondere im Steuerrecht keine privilegierte Stellung genießen.

F: Es stehen immer noch polnische Soldaten im Irak. Wie sieht die polnische Öffentlichkeit diese Beteiligung an der Okkupation, wie stehen die PPP und die Linke zu dieser Politik?

Die PPP verurteilt die Anwesenheit polnischer Soldaten im Irak aufs entschiedenste. Wir sollten uns schnellstmöglich aus diesem Krieg und der Besatzung dieses Landes zurückziehen. Diese Position trennt die PPP von anderen Parteien, die sich zwar als »Die Linke« präsentieren, aber sich in dieser Frage nicht eindeutig verhalten. Hier richtet sich die Stimmung der Bevölkerung ganz besonders stark gegen die Handlungen der politischen Elite. Die polnische Gesellschaft unterstützt diesen Krieg nicht, in diesem Punkt herrscht in Polen eine ähnliche Stimmung wie in vielen anderen Ländern Europas.

F: Seit 1989 und der folgenden »Schocktherapie« für Polen sind 16 Jahre vergangen. Wie beurteilen Sie und die polnische Bevölkerung diese Periode? Auf welche Traditionslinien beruft sich die PPP, wie ist ihr Selbstverständnis?

Die Mitglieder der PPP haben ihre politischen Erfahrungen in den 80er Jahren gesammelt. Wir erinnern uns daran, daß die im August 1980 streikenden Arbeiter unter der Parole »Sozialismus – Ja! Deformationen – Nein!« auf die Straße gegangen sind. Wir haben nicht vergessen, wofür die streikenden Arbeiter 1980 und die in der ersten Solidarnosc organisierten Menschen, die damals zehn Millionen Mitglieder hatte, gekämpft haben.

Die Initiative zur Gründung der PPP ergriffen Menschen, die in der freien, unabhängigen Gewerkschaft Sierpien 80 – August 80 – tätig waren. Als Gewerkschafter erkannten wir, daß die Durchsetzung von Arbeiterinteressen allein durch Gewerkschaftskämpfe unmöglich ist, wir müssen uns auch politischer Mittel bedienen. Um Arbeiter erfolgreich zu repräsentieren, müssen die Gewerkschafter auf die Gesetzgebung Einfluß nehmen. Die polnische Verfassung sieht die Möglichkeit einer direkten Beteiligung der Gewerkschaften an Wahlen – etwa durch eigene Listen – nicht vor. Anstatt im Fahrwasser anderer Parteien mitzuschwimmen, entschloß sich unsere Gewerkschaft, eine eigene politische Repräsentanz für die »Arbeitswelt« zu schaffen.

Die allgemeine Lage im Land ist sehr schlecht. Wir haben an die drei Millionen Arbeitslose, von denen nur zehn Prozent ein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben. Der Rest ist sich selbst überlassen. Besonders hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit, 40 Prozent der Arbeitslosen haben das 25. Lebensjahr nicht abgeschlossen. Sie hatten nie die Chance auf eine Einstellung und wandern verstärkt in die westeuropäischen Staaten ab.

Viele Polen assoziieren die letzten 16 Jahre ausschließlich mit dem Abbau von sozialen Errungenschaften der Arbeiterschaft. Ich verstehe das, weil ich sehe, wieviele Betriebe allein hier in Schlesien liquidiert wurden und allein in dieser Wojewodschaft an die 400000 Menschen ohne Arbeit sind. Das sind die wahren Gegensätze und Trennungslinien, die durch unsere Gesellschaft verlaufen, und nicht die historischen Diskussionen, wer 1956 oder 1989 im Recht war. Wir können nicht zulassen, daß die Errungenschaften der vergangenen Generationen verachtet werden, oder daß Menschen ausgegrenzt werden, nur weil sie in der Volksrepublik Polen gearbeitet haben. Die PPP will die Menschen verteidigen, die unter den Veränderungen der letzten 16 Jahre besonders zu leiden hatten. In Polen müssen die Interessen der Arbeiter, Arbeitslosen und Marginalisierten endlich in der Tat politisch vertreten werden.

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