Fit für Europa

‚Junge Welt” 08.11.06
Niedrige Steuern und Löhne sollen Bulgarien zu einem attraktiven Investitionsstandort machen. Mehrheit der Bevölkerung lebt in Armut

Die derzeit regierenden bulgarischen Sozialisten sind fest entschlossen, ihr Land zu einem »Steuerchampion« Europas aufsteigen zu lassen. Der Haushaltsausschuß des Parlaments in Sofia beschloß in der vergangenen Woche nahezu einstimmig die Senkung der Körperschaftssteuer auf zehn Prozent. Damit sinkt diese von Unternehmen zu entrichtende Gewinnsteuer ab dem 1. Januar 2007 um 50 Prozent, zudem sollen die Sozialversicherungsbeiträge ab Mitte 2007 um drei Prozentpunkte gesenkt werden. Den in Bulgarien tätigen Unternehmen soll hierdurch ersten Schätzungen zufolge eine Steuerersparnis von umgerechnet 150 Millionen Euro pro Jahr zugute kommen. IWF lobt »Sparkurs«
Dikran Tebejan, der stellvertretende Vorsitzende der Bulgarischen Wirtschaftskammer und Erfinder des Begriffs »Steuerchampion«, äußerte sich folglich euphorisch über die wirtschaftlichen Aussichten des Landes »Dies ist seitens der Regierung ein klares Zeichen in Richtung einheimische und ausländische Unternehmen, daß man die Investitionsaktivität fördern will. Vorläufige Prognosen zeigen, daß allein schon die Diskussion über derartige Maßnahmen zu einem verstärkten Interesse an einem Engagement in Bulgarien führt«, so Tebejan in einem Interview mit Radio Bulgarien. Tatsächlich stiegen die ausländischen Direktinvestitionen in Bulgarien rapide an: von 2,4 Milliarden Euro 2005 auf über drei Milliarden in diesem Jahr. Für 2007 werden 3,5 Milliarden erwartet. Langfristige Voraussagen gehen von einem Investitionsvolumen von über 40 Milliarden Euro innerhalb der nächsten fünf Jahre aus.

Kritik an dieser radikalen Steuersenkung kam hingegen von eher unerwarteter Seite. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erklärte, diese Entscheidung sei zu voreilig getroffen worden, da derart niedrige Steuersätze zur Zeit »nicht gerechtfertigt seien«. Lob erhielten die bulgarischen Sozialisten hingegen für die »Haushaltskonsolidierung«. Der IWF empfahl der Regierung, die strenge Fiskalpolitik fortzusetzen und somit für eine niedrige Inflationsrate, die weitere Senkung der Arbeitslosigkeit und ein hohes Wirtschaftswachstum zu sorgen. Laut Finanzminister Plamen Oresharski wird der erste Etat des Landes als EU-Mitglied vor allem die »makrowirtschaftliche Stabilität des Landes gewährleisten und eine effektive Integration in die Europäische Union fördern«. Die Haushaltseinnahmen werden von Oresharski mit 41,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) veranschlagt, während sich die Ausgaben bei 40,9 Prozent bewegen sollen. Der dadurch entstehende Haushaltsüberschuß von 0,8 Prozent des BIP soll zur Kompensation von Mindereinnahmen durch die gesenkten Unternehmenssteuern dienen.

Die mit den Sozialisten verbundenen Gewerkschaften sprechen in diesem Zusammenhang vom Bruch getroffener Vereinbarungen, da die von der Regierung zugesagten Ausgaben­erhöhungen im Bildungs- und Gesundheitswesen wegfielen. Trotz steigender Investitionstätigkeit und einem Wirtschaftswachstum von über fünf Prozent bleibt die soziale Lage der bulgarischen Bevölkerung verzweifelt. Bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von unter zehn Prozent lebt rund die Hälfte aller Bulgaren von umgerechnet weniger als zwei Euro täglich. Die Kaufkraft der Bevölkerung ist inflationsbereinigt immer noch niedriger als vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989. Rein statistisch betrachtet kommt jeder Bürger Bulgariens auf ein monatliches Einkommen von 100 Euro. Der bulgarische Durchschnittslohn liegt derzeit bei 30 Prozent des EU-Mittelwerts, die Familieneinkünfte betrugen im August 2006 im Schnitt über 270 Euro. Die Mindestrente liegt bei 43 Euro, das steuerfreie Mindesteinkommen bei 100 Euro. Löhne und Pensionen stiegen zwar seit 2001 um über 40 Prozent, doch die seit Jahren um fünf Prozent pendelnde Inflation zehrte einen Großteil dieser Einkommenserhöhungen auf.
Kaum EU-Beihilfen
Mit dem Beitritt des Landes zur EU zum 1. Januar 2007 wird eine weitere Teuerungswelle – insbesondere bei den Grundnahrungsmitteln – erwartet. Die bulgarische Bäckervereinigung gab auf einer Pressekonferenz Ende Oktober bekannt, daß sie im Zuge des EU-Beitritts von einer Verdoppelung des Brotpreises ausgeht. Auch Funktionäre der EU versuchen inzwischen, die Erwartungshaltung in der bulgarischen Bevölkerung zu dämpfen. Bei einer hochrangig besetzten Konferenz in Sofa warnte die Bulgarienbeauftragte der EU-Generaldirektion Erweiterung, Brigdet Czarnota, vor überzogenen Hoffnungen auf die EU-Strukturhilfen als ein »Allheilmittel für die Hauptprobleme« Bulgariens. »Die Festigung der bulgarischen Wirtschaft in allen Bereichen ist von erstrangiger Bedeutung, um die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zu spüren. Bulgarien muß auf die Industrie setzen und die effektive Bekämpfung der Korruption auf allen Verwaltungsebenen vorantreiben«, so Czarnota.

Dieser Aufruf zur »Selbsthilfe« ist anscheinend das einzige, was die EU-Bürokratie Bulgarien anbieten kann. Die Strukturhilfen, die Bulgarien aus diversen Fördertöpfen der EU im Laufe der nächsten Jahre abschöpfen kann, belaufen sich gerade einmal auf elf Milliarden Euro. Polen wurde der EU-Beitritt noch mit 60 Milliarden Euro versüßt.

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