Die große Regression

Wie Altlinke in der Querfront lernten, die Neue Rechte zu lieben.

26.05.2024

„Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner?“

Ruth Fischer, ZK der KPD, vor völkischen Studenten am 25.07.1923

Es scheint kontraproduktiv, bei der Reflexion der Katastrophe der deutschen Linken mit dem Finger auf einzelne Akteure zu zeigen, die durch ihr Agieren den inzwischen sich offen vollziehenden Zerfall beförderten. Sollte noch ein auf radikaler Kritik aufbauender Neubeginn möglich sein, wäre es grundfalsch, die Ursachen des Aufstiegs der Querfront und des korrespondierenden Bedeutungsverlusts der Linken an einzelnen Tätern – und sollten sie noch so einflussreich gewesen sein – festmachen zu wollen, was letztendlich auf eine simple Personifizierung hinausliefe. Es wäre der erste Schritt in eine falsche Richtung. Die Ursachen des Aufstiegs der Querfront, die in der gegenwärtigen Systemkrise ein weitaus größeres Gewicht ausbilden konnte als in den 20er oder 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, liegen tiefer als im Machtstreben und im Größenwahn einer Sahra Wagenknecht.

Sinnvoller scheint es, bei den Begriffen und ideologischen Konzepten der alten Linken anzusetzen, die sich so anfällig für die Neue Rechte zeigte. Es sind anachronistische, aus der Zeit gefallene Ideen, die Anschluss suchen, gleich deren stockkonservativen Trägern, die buchstäblich die spätkapitalistische Welt aufgrund ihrer Krisenblindheit nicht verstehen können oder wollen. Es sind verwildernde Überbleibsel der alten sozialdemokratischen oder orthodox-kommunistischen Linken, die großenteils in Kategorien des 20. Jahrhunderts denken, die sich besonders anfällig für die Querfront zeigten: Sozialdemokraten, Leninisten, Teile der in einer Weltkriegszeitschleife verfangenen Antideutschen – diese in Regression befindlichen Splitter eines 1989 gescheiterten weltgeschichtlichen Anlaufs mutieren vermittels der Querfront zu Trägern rechter Ideologie, da ihr gesamtes politisches Bezugssystem sich immer weiter von der spätkapitalistischen Krisenrealität entkoppelte.

Sahra Wagenknecht, die Galionsfigur der deutschen Querfront, hat für diese Zerfallsform der Linken, die schon keine mehr ist, das Oxymoron des Linkskonservatismus erfunden. Der Wahn hat sich treffend benannt: eine Linke, die nicht mehr progressiv agiert, die rückwärtsgewandt ist, hört schlicht auf, links zu sein. Es dominiert tatsächlich die konservative Sehnsucht nach der Vergangenheit in dieser alten (Post-)Linken: nach der BRD des Wirtschaftswunders, nach der Sowjetunion und/oder DDR, nach der klaren Frontkonstellation des Zweiten Weltkrieges, etc. – während der unreflektierte, unerbittlich voranschreitende sozioökologische Krisenprozess samt der korrespondierenden Faschisierung eine umfassende Regression in der Szene befördert.

Regression, der angstbedingte Rückfall in frühere Entwicklungsformen, meint hier vor allem unterschiedliche Arten ideologischer Krisenabwehr, da der Krisenprozess das anachronistische Ideologiegebäude, in dem Altlinke sich häuslich einrichteten, aufzusprengen droht – dies unterscheidet die linke Regression von gewöhnlichen reaktionären Tendenzen der Rechten. Konkret vollzieht sich Regression in der Linken als reaktionärer Kampf gegen radikale Krisentheorie, gegen kategoriale Kapitalismuskritik. Regression zielt somit letztendlich darauf ab, die Etablierung eines radikalen Krisenbewusstseins abzuwehren, das die Überlebensnotwendigkeit der Überwindung des Kapitals als sozialer Totalität reflektiert hat. Dies käme ja zwangsläufig einem Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis gleich, der letztendlich auch die Formen, Institutionen und die Vermittlungsebenen subjektloser kapitalistischer Herrschaft hinter sich ließe; was einem tiefen Bruch gleichkommt, der auch die eigene Identität – Ausdruck der Sozialisation im Spätkapitalismus – tangiert. Und dies tangiert auch das Subjekt, auch den Arbeiter, der nur dann „revolutionär“ sein könnte, wenn er nicht mehr Arbeiter sein wollte. Mensch muss nicht mehr das sein wollen, zu was er im Kapitalismus sozialisiert wurde.

Vor diesem tiefen, kategorialen Bruch mit dem geliebten Feind Kapital1 scheut die alte Linke, die sich hierbei auf die Ambivalenz gegenüber dem Proletariat im Marxschen Werk berufen kann,2 zurück. Das breite Zurückdrängen und Marginalisieren des radikalen, transformatorischen Krisenbewusstseins, das von der Altlinken und der Querfront in den vergangenen Jahren betrieben wurde, resultierte nicht nur aus ideologischer Verblendung und einer buchstäblich identitären Angst, es wurde auch von einem linken Krisenopportunismus befördert, der immer noch auf Posten und Pöstchen in der spätkapitalistischen Krisenverwaltung schielt.3 Der bereits erreichte, bescheidene Reflexionsgrad der Systemkrise ist weitgehend verschütt gegangen, die bewusst geführte kategoriale Kritik des Kapitals in seinem fetischistischen Amoklauf wurde durch affekthafte, irrationale Reaktionen auf das Krisengeschehen abgelöst.4 Der Aufstieg der Querfront in der Linken ging mit der Marginalisierung radikaler Krisentheorie und kategorialer Kritik am Spätkapitalismus einher.

Was ist also unter dieser zumeist absurd staatsgläubigen Altlinken zu verstehen? Die Altlinken müssen gar nicht alt sein, es finden sich – gerade als ideologischer Ausdruck der krisenbedingt zunehmenden Tendenzen zum Staatskapitalismus – auch verstärkt junge Menschen in orthodox-kommunistischen Grüppchen, keynesianischen Seilschaften und Zusammenhängen. Den gemeinsamen Nenner der alten Linken bilden verschiedene Rudimente anachronistischer Ideologie, die in Verwesung übergeht, braun anläuft, sich für den Faschismus des 21. Jahrhunderts öffnet. Was von der Altlinken gepredigt wird, ist die Rückkehr zu den alten – sozialdemokratischen oder leninistischen – Wahrheiten, wahlweise zum sozialdemokratischen Umverteilungskampf, zur Sozialen Frage, zu Keynes, zu Lenin oder gleich Stalin, zum verkürzten Klassenkampfdenken und zum Arbeits- wie Proletenfetisch.

Durch diese Rückbesinnung auf Ideen und Konzepte der Vergangenheit sollten ursprünglich die verschütt gegangenen einfachen Wahrheiten zutage gefördert werden, die man den einfachen Lügen und der Hetze der Rechten entgegengestellten wollte. Den rechten Populismus sollte ein linker Populismus kontern. Was diese große Regression in ihrer Krisenblindheit beim Durchwühlen alter linker Ideologie-Konserven tatsächlich zutage förderte, sind abgestandene, anachronistische, aus ihrer Zeit gefallene Begriffe und Konzepte, die entkernt – ihres historischen Kontextes beraubt – quasi selbst in Regression übergingen, Anschluss suchten, an die Querfront und an den rechten Wahn andockten. Es sind Ideologiesplitter in Regression, anachronistische Verfallsformen altlinker Ideologie auf dem Weg zur Neuen Rechten.

Zuvorderst ist das Konzept des Proletariats als revolutionäres Subjekt zu nennen, das eine Regression zum populistischen Glauben an das Volk und den Volkswillen erfährt. Da die Arbeiterklasse, die zugleich Variables Kapital ist, ihre revolutionäre Bestimmung nicht erfüllt hat, setzte in Teilen der Linken eine regressive Substitution ein, bei der allgemein das Volk zur neuen, unscharfen Bezugsgröße imaginiert wurde. Dem Volkswillen sollte populistisch Ausdruck verliehen werden, wobei die Interessen des Volkes im Gegensatz zur herrschenden Klasse, oder – abgeschwächt – zu Profiteuren/Reichen imaginiert wurde. Doch was passiert, wenn das Volk partout nicht Front gegen die „reichen Absahner“ machen will, sondern in Rassismus und Xenophobie flüchtet? Muss dieser Volkswille nicht auch berechtigte Volksinteressen zum Ausdruck bringen, muss er nicht auch irgendwie sozial gewendet werden können, indem soziale Forderungen mit stärkerer Abschottung der Grenzen verknüpft werden?

Der zum „Volksglauben“ degenerierte Proletenkult ist eng mit dem altlinken Klassenkampfparadigma verknüpft. Der Kapitalismus ist demnach nichts weiter als die Frontstellung von zwei Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie, die jeweils ihr eigenes Klasseninteresse haben und in einem permanenten – mal offen, mal verdeckt geführten – Klassenkampf befindlich sind, der als der kapitalistische Hauptwiderspruch imaginiert wird. Alles erscheint dem Klassenkampfdenken als Interesse, alle kapitalistischen Phänomene sollen sich demnach auf Interessen zurückführen lassen, nach denen die Klassenkampflinken mit dem berühmten leninschen „Cui bono?“ („Wem nützt es?“) fragen. Ein Verteilungskonflikt wird hier zum Hauptwiderspruch aufgeblasen, während der innere Widerspruch des Kapitals ausgeblendet wird, das zum Abschmelzen seiner Substanz – der Lohnarbeit in der Warenproduktion – tendiert und diesen „prozessierenden Widerspruch“ nur in immer neuen Expansionsschüben prolongieren kann.

Die gegenwärtige soziale und ökologische Weltkrise wird gerade durch diesen widerspruchsgetriebenen Wachstumszwang des Kapitals befördert, und dies liegt eigentlich auch offen auf der Hand.5 Die verkürzte Kapitalismuskritik der Klassenkampflinken kann aber nur nach dem Cui bono? fragen. Diese Krisenblindheit, die den Fetischismus des Kapitals ausblendet,6 führt somit direkt zur Sündenbocksuche und zum reaktionären Verschwörungsglauben, wie sie die rechte Krisenideologie charakterisieren. Selbst wenn ganze Erdteile im Zuge der Klimakrise unbewohnbar zu werden drohen, selbst wenn eine Pandemie wütet, dann können Altlinke, schon mitunter gemeinsam mit Neuen Rechten, nur manisch nach den einflussreichen, schattenhaften Hintermännern suchen, die dafür verantwortlich seien, weil sie daraus Profit schlagen würden.

In den Komplex der verkürzten Kapitalismuskritik gehört auch die ideologische Aufspaltung des Kapitals in ein „gutes“, national-schaffendes Industriekapitals, und ein „böses“, international raffendes Finanzkapital. Bekanntlich haben die Nazis diesen Wahn einer allmächtigen jüdischen Bankerverschwörung, die für alle möglichen Krisen und Verwerfungen verantwortlich gemacht wurde, auf die eliminatorische Spitze getrieben, indem sie ihn mit fanatischem Antikommunismus in Gestalt des Wahngebildes der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ anreicherten.

Historisch bildete dieser antisemitische Wahn vom „zersetzenden jüdischen Finanzkapital“ den wichtigsten Anknüpfungspunkt für Querfrontbemühungen, etwa 1923 seitens der KPD im Rahmen des sogenannten „Schlageter-Kurses“, der aber Episode blieb.7 In der gegenwärtigen Linken wurde die einseitige Finanzmarktkritik hauptsächlich von Keynesianern und von der notorischen „Finanzmarktkritikerin“ Wagenknecht nach Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 betrieben – womit der tatsächliche Krisencharakter auf den Kopf gestellt wurde, da die Krisenursachen in der hyperproduktiven Warenproduktion zu verorten sind, welcher durch Blasenbildung und Schuldenberge kreditfinanzierte Nachfrage verschafft werden muss.8 Selbst noch in ihren jüngsten Machwerken produzierte Wagenknecht Variationen dieser reaktionären „Finanzmarktkritik“, die eine offene Flanke zum Antisemitismus hat.

Ein weiteres altlinkes Übergangsmilieu zur Querfront bilden die Zerfallsprodukte des Antiimperialismus, der sich schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Problem konfrontiert sah, dass viele der Modernisierungsregime, die aus der großen Welle der Dekolonialisierung hervorgingen, schlicht sozioökonomisch scheiterten oder erzreaktionär und/oder massenmörderisch waren – wie etwa der Irak Saddam Husseins. Man behalf sich damals mit dem Konstrukt der „objektiv antiimperialistischen Mächte“, die einfach durch ihre Opposition zu den USA als fortschrittlich angesehen wurden, selbst wenn sie die Linke blutig verfolgten (Iran nach der Revolution), oder Minderheiten massakrierten (Iraks Giftgaskrieg gegen die Kurden).

Die Sympathien der Antiimps für reaktionäre Regime oder blutige Modernisierungsdiktaturen in der Peripherie des Weltsystems, die zumeist mit primitivem Antiamerikanismus einhergehen, fanden in dem Russlands Wladimir Putins das geeignete Objekt, um mit der aufkommenden Neuen Rechten zu verfilzen, die an das „eurasische“ Russland, das sich auch als kulturalistisch-reaktionäres Gegengewicht zum Westen versteht, ideologisch andockte.

Der vom Kreml entfachte Ukraine-Krieg führte zudem zu einem weiteren Desintegrationsschub der deutschen Linken, die einerseits – in Gestalt des linksliberalen Spektrums – die westlichen Narrative kritiklos übernahm und ins Nato-Lager überlief, während viele Antiimps endgültig zu Alternativimperialisten, zu Mietmäulern des russischen Imperialismus verkamen. Die putintreue junge Welt als das Sprachrohr des Antiimp-Spektrums pflegt übrigens immer noch, selbst im Mai 2024, eine wohlwollende Blattlinie gegenüber Wagenknecht und dem BSW, obwohl dessen Akteure inzwischen offen AfD-Rhetorik absondern. Es gibt auch personelle Verfilzungen zwischen der junge Welt und etwa dem Querfrontorgan Telepolis.

Dem Antiamerikanismus als großem ideologischem Scharnier zwischen der alten Linken und der Neuen Rechten korrespondiert oftmals eine unterschiedlich geartete Opposition gegen den westlichen Liberalismus. Während die Linke die Privatisierungsexzesse und die soziale Demontage des Neoliberalismus verurteilt, können Vordenker der Neuen Rechten wie Alain de Benoist den Liberalismus wegen seines Kosmopolitismus, seiner Wurzellosigkeit, der identitären Leere und seiner Wertelosigkeit kritisieren – auch hier sind Übergänge möglich, etwa mittels einer national grundierten, verkürzten Globalisierungskritik. Die Globalisierungskritik kann durchaus zu bloßer Ideologie, zum Drang zur rechtsoffenen Renationalisierung verkommen. Die Kritik der bürgerlichen Freiheit und der neoliberalen Individualisierung/Atomisierung kann folglich in eine nationalistische/fundamentalistische Gemeinschaftsideologie umschlagen – womit aber nur die gegenwärtige postneoliberale Krisenphase, in der Staatskapitalismus, Nationalismus und Protektionismus im Aufwind sich befinden, ideologisch legitimiert würde. Auch hier leistete Wagenknecht bereits Vorarbeit.

Einen ähnlichen Anknüpfungspunkt für die Abwanderung von Linken in die Rechte bildet schließlich der Nahostkonflikt – und seit dem molekularen Hamas-Massaker an Juden vom 07. Oktober 2023, vor allem Israels Krieg gegen die Hamas. Einerseits gibt es die üblichen Reflexe des aufschäumenden Antizionismus, der im Laufe der Proteste immer öfter in offenen Antisemitismus umschlägt.9 Der Kritik an dem Vorgehen der israelischen Armee mischen sich immer mehr Projektionen („Genozid“) bei, bis hin zum genuin antisemitischen Wahn, der etwa die US-Regierung oder die Medien von einer jüdischen Verschwörung beherrscht sieht. Zugleich können Ressentiments aber auch in der proisraelischen Bewegung verfangen, da Rechte den Massenmord an Juden durch die Hamas zur Anfachung antimuslimischer Ressentiments, zum Schüren von Xenophobie und Abschottungswahn instrumentalisieren. Ausdruck der mehrfachen Rechtsoffenheit dieser Krisenkonstellation – Folge der krisenbedingt weit vorgeschrittenen Verrohung – sind gerade die Auseinandersetzungen in der Rechten, wo über die zwei möglichen Strategien zur Instrumentalisierung des Krieges gestritten wird. Rassismus oder Antisemitismus, wie soll der Konflikt ausgeschlachtet werden, darüber debattiert die Rechte.10

Die verkürzte, in der bürgerlichen Aufklärungsideologie feststeckende Kritik des Islamismus bildete auch den wichtigsten rechten Kipppunkt innerhalb der antideutschen Szene. Die Auseinandersetzung mit der Ideologie des Islamismus, der ja – etwa in Gestalt des Islamischen Staates11 oder der Hamas – tatsächlich genozidale Züge annehmen kann, führt bei Identifikation mit spätbürgerlicher Ideologie in blanken Rassismus. In der Hardcore-Fraktion der Antideutschen, bei der Postille Bahamas, werden antimuslimische Ressentiments inzwischen offen artikuliert, etwa indem eine „Beweislastumkehr“ für Muslime gefordert wird.12 Auch bei den Antideutschen handelt es sich sozusagen um eine altlinke Strömung, die das spätkapitalistische Weltsystem in einer Zeitschleife gefangen sieht, in der die Konstellation des Zweiten Weltkrieges ewig fortbesteht: mit dem Islamismus in der Rolle der Nazis. Dennoch muss hier festgehalten werden, dass diese kleine Szene, deren Bedeutung von ihren Gegnern aus dem Antiimp-Spektrum gerne aufgebauscht wird, nur einen Nebenaspekt der Querfronttendenzen darstellt.13

Die Querfront speist sich – wie oben dargelegt – vor allem aus regressiven traditionskommunistischen und alt-sozialdemokratischen Strömungen. Und sie hat in der gegenwärtigen Krise eine weitaus größere Bedeutung angenommen, als es in den 20er oder 30er Jahren der Fall war, wo solche Bestrebungen immer nur Episode blieben. Mit dem BSW hat die Querfront Parteiform angenommen, und sie könnte die panische Linkspartei, die sie erst groß machte, durchaus aus vielen der ihr verbliebenen Parlamente verdrängen. Die Reaktion der Linkspartei auf die Abspaltung der Querfront bestand im Europawahlkampf 2024 übrigens darin, die Querfront-Ideologie von der zentralen Rolle der (deutschen) „sozialen Frage“ zu übernehmen. Mitten in der aktuellen Systemkrise fokussiert sich die Linkspartei auf eine anachronistische „Sozialpolitik“, die im sich entfaltende Krisenchaos nicht mehr realisiert werden kann, anstatt über Transformationswege aus der kapitalistischen Dauerkrise zu streiten – während Linksparteigrößen Koalitionssignale an Wagenknecht senden.

Das deprimierende Endstadium der Linkspartei kulminiert somit darin, die ideologischen Ausreden Wagenknechts, mit denen sie ihre Rechtsdrift legitimierte, für bare Münze zu nehmen. Es handelt sich hierbei faktisch um einen grenzenlosen Opportunismus bis zum letzten Atemzug, der auf die Koalitionsfähigkeit mit der Querfront schielt – und somit die Normalisierung der Faschisierung hinnimmt. Die Querfront sucht keine Konfrontation mit dem Faschismus, sondern die opportunistische Anpassung an den krisenbedingt aufkommenden rechten Zeitgeist. Das ist der gemeinsame Nenner zwischen den Rest- und Altlinken in Linkspartei und BSW. Und dies erinnert nicht zufällig an die bürgerlich-demokratische Methode, den Rechtsextremismus zu „bekämpfen“, indem man sich ihm angleicht – wie zuletzt im Herbst 2023 bei der Flüchtlingspolitik.

Was aber ist eigentlich die Querfront? Zur Verdunklung dieses Begriffs tragen gerade Querfrontler gerne bei, da sie alles Mögliche als Querfront bezeichnen. Der ehemalige Linksparteiabgeordnete Dieter Dehm fragte etwa in einem Interview, das in der rechtsextremen Zeitschrift Compact abgedruckt wurde,14 ob die Anti-Hitler-Allianz nicht auch als eine Art Querfront bezeichnet werden könnte. Für die Querfront ist alles Querfront, um hierdurch – auch angesichts der historischen Erfahrungen – die Ungeheuerlichkeit ihres Paktierens mit der Rechten zu verschleiern. Querfront bezeichnet gerade nicht einfach eine Zusammenarbeit linker und rechter Parteien oder Kräfte – etwa, wenn Grüne, SPD oder CDU eine Koalition eingehen – sondern die Kooperation zwischen den Kräften am linken und rechten Rand des politischen Spektrums. Historisch waren das die punktuellen Annäherungsversuche zwischen KPD und der völkischer Rechten und/oder NSDAP, die Episode blieben, gegenwärtig ist es die sehr reelle, dauerhafte Annäherung zwischen der wagenknechtschen Postlinken, die ehemals Links von Rot-Grün stand, und der AfD. Es ist, als ob Querfrontler die alte Totalitarismustheorie des Kalten Krieges wahrmachen wollten, die von der CIA ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Umlauf gebracht wurde (Sahra Wagenknecht eine CIA-Agentin? Wäre dies nicht eine schöne Verschwörungstheorie, die in diesem Spektrum doch sicher verfangen müsste?).

Die objektive Funktion der Querfront ist aber die eines ideologischen Transmissionsriemens, der einerseits rechtes Gedankengut in linke und progressive Milieus hineinträgt, und andrerseits der Neuen Rechten immer neues, verblendetes Menschenmaterial zuführt. Die Querfront fungiert somit für viele Linke als eine Art „Einstiegsdroge“ in die Wahnwelt der Neuen Rechten. Ihr Erfolg beruht darauf, rechte Ideologie in linke Rhetorik zu verpacken. Die Ausformung der Querfront binnen der letzten zehn Jahre belegt gerade eindrucksvoll, dass all die Hoffnungen, mit einer Öffnung nach rechts die verblendeten Wutbürger „abholen“ zu können, grandios gescheitert sind – sie waren entweder illusionär, oder es handelte sich um bloße Ausreden, um den intendierten Gang nach rechts irgendwie zu legitimieren. Die Querfront ist letztendlich Ausfluss der Krisenblindheit einer opportunistischen Linken, die vor radikaler Kritik und der Thematisierung der überlebensnotwendigen Systemtransformation zurückschreckt. Die Querfront – das ist der Weg der Linken in den Extremismus der Mitte, der in der gegenwärtigen Systemkrise um sich greift, sobald die Systemfrage nicht offensiv gestellt wird und mit einer transformatorischen Praxis einhergeht.

Dieser Text findet sich in dem Ebook Deutschlands Querfront. Altlinke auf dem Weg zur Neuen Rechten

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1 Der beispielsweise auch den erodierenden Staat als „ideellen Kapitalisten“ und das sich entwertende Geld als allgemeines Wertäquivalent umfasst.

2 Marx definierte einerseits den Arbeiter im Produktionsprozess als Variables Kapital, er bestimmt die Lohnarbeit als die Substanz des Kapitals. Doch zugleich ging er – dem damaligen Fortschrittsglauben folgend – davon aus, dass die Proletarier eine historische Mission als revolutionäres Subjekt zu erfüllen hätten. Allerdings hat Marx die Arbeiterbewegung in seiner Kritik des Gothaer Programms von 1875 auch heftig kritisiert, die bis heute lesenswert ist.

3 https://www.konicz.info/2020/12/09/der-linke-bloedheitskoeffizient/

4 Sündenbocksuche bei Krisenschüben, Greedflation, „Finanzmarktkritik“, etc.

5 https://www.mandelbaum.at/buecher/tomasz-konicz/klimakiller-kapital/

6 https://www.konicz.info/2022/10/02/die-subjektlose-herrschaft-des-kapitals-2/

7 https://www.rote-ruhr-uni.com/cms/texte-und-vortrage/Die-KPD-und-der-Nationalismus

8 https://www.labournet.de/politik/wipo/wipo-deb/kapitalismuskritik/buch-kapitalkollaps-die-finale-krise-der-weltwirtschaft/

9 Siehe hierzu etwa die junge Welt vom 10.Oktober 2023, in der das Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten als eine „Offensive gegen Israel“ umschrieben wurde und Sprecher palästinensischer Gruppen den Massenmord als eine „Hoffnung für Palästina“ bezeichnen konnten. junge Welt, 10.10.2023, „Hoffnung für Palästina“, Libanon. Linke Gruppen unterstützen Offensive gegen Israel

10 https://blog.campact.de/2023/10/angriff-israel-rechte-reaktionen/

11 https://www.kritiknetz.de/religionskritik/1259-globalisierte-barbarei

12 https://www.redaktion-bahamas.org/hefte/93/Es-geht-um-Israel.html

13 Zur Auseinandersetzung mit den Antideutschen, siehe: Robert Kurz, Die antideutsche Ideologie, Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesens in seinen theoretischen Propheten, 2003

14 https://www.compact-online.de/diether-dehm-ueber-querfront-in-compact-3-2023/ (Dehm bestreitet, das er die Einwilligung zum Abdruck dieses Interview in Compact gegeben habe.)

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