Die extreme Mitte

Kontext, 10.01.2024

Wie weit die krisenbedingte Verrohung des deutschen Bürgertums bereits vorangeschritten ist, zeigt sich besonders deutlich an der Debatte um Flucht und Migration. Fast alle Parteien kopieren die AfD, und Leitmedien propagieren offen Sozialdarwinismus.

Bevor die Grünen mal wieder bei einem ihrer Kernthemen umfielen, ging Baden-Württembergs Ministerpräsident voran. Im Oktober 2023 plädierte Winfried Kretschmann in der Migrationsdebatte für eine härtere Gangart gegenüber Asylsuchenden. Man müsse „alle Maßnahmen“ implementieren, die „dazu dienen, irreguläre Migration einzudämmen“, da die „Überlastungssituation“ der Kommunen nicht hinnehmbar sei. Kretschmann zeigte sich nicht nur für Verschärfungen wie das Geldkarten-System und Leistungskürzungen offen, die im November unter Mitwirkung seiner Partei beschlossen worden sind, sondern sogar für die Einführung von Zwangsarbeit für Geflüchtete („Arbeitspflicht für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive“).

Die Diskursverschiebung in der Asyldebatte – in der flüchtende Menschen meist nur noch als „Migranten“ bezeichnet werden – legt offen, wie weit die Hegemonie der Neuen Rechten gediehen ist. So nutzte etwa der „Spiegel“ ein stark verfremdetes Foto, um auf dem Cover eines September-Hefts eine schier endlos wirkende Schlange von Flüchtenden zu zeigen, verbunden mit der Frage: „Schaffen wir das noch mal?“ Zu dieser Zeit schien es über Wochen so, als ob sich nahezu alle relevanten politischen Gruppierungen und Akteure gegenseitig bei der Stimmungsmache gegen Geflüchtete überbieten wollten – und dabei kopieren sie letztlich die AfD. Eine in weiten Teilen extremistische Kraft, die zur bundesweit zweitstärksten Partei aufgestiegen ist, treibt den verrohenden Diskurs und das gesamte Parteienspektrum weit nach rechts ins Präfaschistische.

2015 waren es Smartphones in Flüchtlingshänden, die den Stammtisch-Nazi empörten, nun sind es intakte Flüchtlingszähne, die nicht nur am rechten Rand, sondern in der gutbürgerlichen Mitte für Unmut sorgen. Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) beschwerte sich etwa darüber, dass Flüchtlinge den Deutschen die Arzttermine wegnehmen würden, um sich „die Zähne machen“ zu lassen. Das Feindbild, das hier aufgebaut wird, weist faschistische Tendenzen auf: Der Flüchtling wird als glücklich und überprivilegiert imaginiert, während es sich in Wahrheit um eine sozial schwache, marginalisierte Gruppe handelt. Folglich zielt diese Hetze nicht darauf ab, allen Bürgern eine ordentliche Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, wie sie der Millionär Friedrich Merz genießt. Es um Kürzungen und Kahlschlag.

https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/667/die-extreme-mitte-9310.html

Zu dem Thema erschien gerade mein E-Book „Faschismus im 21. Jahrhundert. Skizzen der drohenden Barbarei“: https://www.konicz.info/2024/01/13/e-book-faschismus-im-21-jahrhundert/

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