konkret, 03/2023
Klimakrise und drohende Nahrungsengpässe verschaffen der Gentechnik neuen Auftrieb.
Die „Flucht nach vorn“ des Kapitals vor seinen eigenen Widersprüchen bildet ein zentrales Merkmal der 300-jährigen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems – sowohl in ökonomischer, als auch in ökologischer Hinsicht. Jedes Mal, wenn der Verwertungsprozess an wirtschaftliche, soziale oder ökologische Grenzen stießen, reagierte er darauf mit verstärkten Expansionsbemühungen. Die imperialistische Eroberung und blutige Eingliederung aller peripheren Weltregionen in den Weltmarkt, die innere Expansion des Kapitals in alle Gesellschaftsbereiche und die wissenschaftlich-technologische Erschließung immer neuer Märkte – sie sind Folge des „Ins-Extrem-Treibens“ des Kapitals, für das Karl Marx den genialen Begriff des „prozessierender Widerspruchs“ fand.
Geradezu paradigmatisch drückt sich das Wesen des Kapitalverhältnisses als prozessierender Widerspruch in der voll einsetzenden Klimakrise aus, die laut aktuellen Studien früher als angenommen zu einer deutlichen Verschlechterung der Nahrungsmittelversorgung führen wird. Schon in den kommenden zwei Dekaden sollen die globalen Ernteerträge bei Grundnahrungsmitteln wie Mais, Reis und Sojabohnen deutlich einbrechen, heißt es in einer vom Fachmagazin „Nature Food“ veröffentlichten Studie. Und die kommende Nahrungsmittelkrise betrifft nicht nur die Peripherie.
In einzelnen Zentrumsländern, wie etwa dem Brexit-geschädigten Großbritannien, schlagen Bauernverbände angesichts der beginnenden Deglobalisierung und des ungebrochenen Trends zum Protektionismus bereits Alarm: Großbritannien sei dabei, in eine „Krise der Nahrungsmittelversorgung“ zu taumeln, sollte die Regierung nicht eingreifen, warnte die National Farmers Union (NFU) Ende 2022. Engpässe zeichneten sich demnach bei etlichen Gemüsesorten wie Tomaten und Gurken, aber auch bei Eiern ab, die in Supermärkten mitunter rationiert würden, so die BBC. Die rasch steigenden Preise und die Folgen des Brexits, der Importe von Lebensmitteln erschwere, hätten demnach maßgeblich zu der angespannten Versorgungslage geführt. Auch in Japan ist die Situation dramatisch: Die Nahrungsmittel-Selbstversorgungsrate der exportorientierten Industrienation ist von 73 Prozent 1965 auf nur noch 38 Prozent im vergangenen Jahr gefallen. Diese niedrigste Selbstversorgungsrate aller Industrienationen nötige Tokio dazu, „sofort umfassende Reformen“ einzuleiten, da Japan „besonders anfällig ist in der sich verstärkenden Nahrungskrise“, warnte die „Financial Times“ schon im vergangenen Herbst.
Was tun, angesichts der sich immer deutlicher abzeichnenden Versorgungskrise? Vernünftig wäre es, möglichst schnell den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. Da der hochgradig industrialisierte kapitalistische Agrarsektor für einen großen Teil der Emissionen verantwortlich ist (Schätzungen reichen von 23 bis 36 Prozent), wäre vor allem eine rasche Transformation der Agrarindustrie hin zu einer ökologisch nachhaltigen und emissionsarmen Wirtschaftsweise notwendig. Was aber tatsächlich derzeit in Politik und Öffentlichkeit propagiert wird, ist der Einsatz neuer gentechnischer Verfahren, mit denen der eskalierenden Klimakrise begegnet werden soll. Für die Agrar- und Biotech-Branche ist die drohende Lebensmittelknappheit einfach eine Gelegenheit, neuen Genprodukten zum Durchbruch am Markt zu verhelfen. Hitze- oder Dürreresistente Pflanzen, die auf ausgelaugten und versalzenen Böden wachsen können und gegen Schädlinge resistent sind – dass sind die dystopisch klingenden Werbeversprechen der Genbranche.
Die Genschere und das Klima
Diesmal ist es die sogenannte Genschere, die als Wunderwaffe gegen die Folgen des Klimawandels angepriesen wird. Das sogenannte CRISPR/Cas9 (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) -Verfahren verwende die „effizienteste und beste molekulare Schere“, die der Wissenschaft zur Modifikation von Erbgut zur Verfügung stehe, erklärte der Molekularbiologe Holger Puchta bei einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2019, das gewissermaßen den Startschuss für die Werbekampagne für die neuen Formen der Genmanipulation gab. Diese molekulare Genschere ermöglicht es, sehr präzise Mutationen an Pflanzengenen durchzuführen. Dabei werden keine artfremden Gene eingeschleust, wie bei transgenen Pflanzen, etwa bei Maissorten, denen Gene von Bakterien eingebaut wurden, um sie resistent gegen Schädlinge zu machen. Puchta vergleicht die CRISPR-Methode mit einer Operation mit „Skalpell“, während ältere Methoden, etwa die radioaktive Bestrahlung von Pflanzen zwecks Mutationsauslösung, dem Einsatz „einer Schrotflinte“ glichen. Zudem sei die Genschere immer billiger in der Anwendung geworden, sodass „viele kleinere und mittlere Unternehmen clevere neue Technologien entwickeln“ könnten, wenn nur die relativ restriktive EU-Verordnung zur Gentechnik sie ließe.
Derzeit gelten für die durch das CRISPR/Cas9-Verfahren fabrizierten Pflanzen dieselben Bestimmungen wie für transgene Genprodukte, was von Befürwortern der Genschere als große Ungerechtigkeit empfunden wird. Weil es nicht möglich sei, bei diesen Pflanzen festzustellen, „ob da Gentechnik eingesetzt worden ist oder nicht“, so Puchta, seien die geltenden gesetzlichen Bestimmungen „juristische Unsinnigkeiten“. Die durch die Genschere designten Pflanzen sollten besser unter das „Sortenrecht“ fallen, damit auch „kleine und mittlere Unternehmen“ die Zulassungskosten schultern könnten. Toll. Was kann schon schiefgehen, wenn jede mittelständische Klitsche nach Lust und Laune mit der Genschere dilettieren kann, ohne dass die Endprodukte überhaupt noch als genveränderte Organismen erkennbar sind? Hinzu kommen die üblichen Klagen, wonach Europa auf diesem neuen, milliardenschweren Markt von den USA oder China abgehängt werden könnte, sollten die Restriktionen nicht gelockert werden.
In den vergangenen vier Jahren haben die häufig unter dem Deckmantel objektiver Wissenschaft operierenden Wirtschaftslobbyisten viel erreicht. Die „Financial Times“ berichtete im November 2022, dass unter dem Eindruck von Extremwetterereignissen, Naturkatastrophen und Ernteeinbrüchen innerhalb der EU-Funktionseliten die „Stimmung kippen“ würde – zugunsten der „neuen“ Gentechnik. Schon im September 2022 haben die europäischen Landwirtschaftsminister Brüssel aufgefordert, eine „Neubewertung“ der Gentechnik-Verordnung vorzunehmen. Im Oktober 2022 kündigte die EU-Kommission an, die Regelungen bei „einigen Technologien des Genome-Editing im zweiten Quartal 2023 zu lockern“. Der Klimawandel und der Verlust von Biodiversität führten laut der Brüsseler Kommissarin Stella Kyriakides dazu, dass „die Biotechnologie das Potenzial“ habe, als „Teil einer breiteren Veränderung“, der Agrarbranche „dabei zu helfen, unsere Nahrung nachhaltiger zu machen“. Die FDP wittere in der neuen Branche bereits eine Chance, meldete der „Tagesspiegel“ Mitte Januar 2023. Die CDU hat sich ebenfalls zur im vergangenen Januar zur „Genschere“ bekannt, die im Rahmen einer „Neujustierung der europäischen und nationalen Agrarpolitik“ notwendig sei, da „volle Regale im Supermarkt nicht selbstverständlich“ seien.
Roboterbienen auf dem Vormarsch
Selbst wenn sich die Versprechen der Gen-Branche diesmal zumindest teilweise bewahrheiten sollten, stellt diese kapitalistische „Flucht nach vorn“ in neue Märkte ein bloßes Laborieren an den Symptomen der Klimakrise dar, das davon ablenkt, dass eine grundlegende Umwandlung des spätkapitalistischen Agrarsektors überlebensnotwendig ist. Zudem scheitert die Idee, mittels Gentechnik die Erträge zu steigern, an der Unbeständigkeit des Wetters, die mit der Klimakrise einhergeht. Pflanzen, die beispielsweise mittels der Genschere als besonders dürreresistent designt wurden, dürften eher schlecht damit klarkommen, wenn es auf einmal lange stark regnet.
Wie gehen aber für gewöhnlich „breite Veränderungen“ in der EU vor sich, die eine „Neujustierung der europäischen und nationalen Agrarpolitik“ zum Ziel haben, um „unsere Nahrung nachhaltiger zu machen“? Wie? Das konnte man zuletzt beim großen europäischen Tauziehen um die europäische Agrarpolitik für die Haushaltsperiode 2021-27 (Common Agricultural Policy – CAP) beobachten, als Wirtschaftslobbys, die jetzt die neue Gentechnik anpreisen, äußerst erfolgreich Ansätze ökologisch nachhaltiger Reformen torpedierten. So konnte die Agrarindustrie den Subventionsanteil, der an die Teilnahme an Umweltschutzmaßnahmen gekoppelt ist, von 30 auf 20 Prozent drücken, wobei aufgrund ausgehandelter Übergangsfristen tatsächliche Subventionsverluste erst ab 2025 eintreten können. Ach ja, die EU-Staaten können die Kriterien ihrer Umweltprogramme weitgehend selbst definieren, was zu Missbrauch im großen Stil einlädt. Greenpeace beklagte damals ein „Greenwashing übelster Sorte“ in Brüssel, und selbst die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ konstatierte, dass das alte Agrarsystem in seinen Grundzügen beibehalten werde (Siehe konkret 2020/12).
Das Festhalten an den Strukturen der industriellen Landwirtschaft und die fehlende ökologische Transformation des Agrarsektors verschärfen auch den von Kyriakides beklagten Verlust der Biodiversität und das drastische Insektensterben. Gerade das Bienensterben droht zu katastrophalen Ernteeinbrüchen bei vielen Nutzpflanzen zu führen. Doch auch hier weiß das Kapital Rat: Die Erforschung von Roboterbienen, die unter Einsatz von KI die Bestäubung übernehmen sollen, sei weit vorangeschritten, meldete der Deutschlandfunk Ende 2021. Erste Versuche seien vielversprechend, betonten Wissenschaftler. Fliegende Roboter und „hybride Kreaturen“ böten einen „vielversprechenden Ansatz im Umgang mit der Bestäubungskrise“, so Eijiro Miyako vom japanischen Forschungsinstitut für Industrietechnik gegenüber Magazin „Forbes“. Es sei „eine preiswerte Technologie“, hieß es auch im Deutschlandfunk, man könne „Massen davon herstellen“ und es sei egal, ob „die Hälfte nach Erkundungsflügen nicht zurückkommt“. Ein perfektes Geschäftsprinzip, sozusagen, das sich permanent seine Nachfrage schafft.
Tomaz Konicz schrieb in konkret 2/23 über die Kriminalisierung der Klimabewegung
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