„Junge Welt“, 04.07.2011
Solidarnosc demonstriert für Mindestlohn – und gegen den Klimaschutz
Am Donnerstag fand in Polen die größte Gewerkschaftsdemonstration der vergangenen Jahre statt. Nach Polizeischätzungen zogen rund 30000 Teilnehmer durch die Straßen Warschaus und forderten eine Anhebung des Mindestlohns. Die polnische Gewerkschaft NSZZ »Solidarnosc«, die die Proteste organisiert hatte, zählte sogar 80000 Demonstranten. Der »Solidarnosc«-Vorsitzende, Piotr Duda, verlangte weiterhin eine vorübergehende Absenkung der Benzinsteuer, Finanzmittel für aktive Arbeitsmarktpolitik und den Ausstieg aus dem Klimaschutz.
Der Tag des Protestes war nicht zufällig gewählt. Am Freitag übernahm Polen die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. »Solidarnosc« wollte dies nutzen, um auch europaweit auf die Lage der Arbeitslosen und abhängig Beschäftigten in Polen aufmerksam zu machen.
»Dieser Protest ist eine Form der Solidarität mit jenen, die selber nicht anreisen und protestieren können«, hatte Duda im Vorfeld der Demonstration gegenüber dem polnischen Radio erklärt. Neben der hohen Arbeitslosigkeit kritisierte er den niedrigen Mindestlohn. Dieser würde derzeit gerade mal 1032 Zloty netto betragen. Das sind etwas mehr als 250 Euro. Die Arbeitslosigkeit liegt in Polen bei knapp 13 Prozent, besonders hoch ist die Jugenderwerbslosigkeit mit 24 Prozent.
Bereits Wochen vor Beginn der Proteste hatten »Solidarnosc«-Mitglieder Unterschriften für eine von der Gewerkschaft ausgearbeitete Gesetzesinitiative gesammelt, die eine Anhebung des derzeitigen Bruttomindestlohns von 1386 Zloty (ca. 340 Euro) auf knapp 1600 Zloty anvisiert. Fast 500000 Unterschriften sind seither zusammengekommen. Das Vorhaben sieht die mittefristige Anhebung der polnischen Mindestvergütung von derzeit 41 Prozent des Durchschnittslohns auf 50 Prozent vor – dies aber nur, wenn das Wirtschaftswachstum drei Prozent übersteigen sollte. Im ersten Schritt soll die Untergrenze im Jahr 2013 auf 1591 Zloty brutto steigen (43,9 Prozent des Durchschnittslohns), während die rechtsliberale Regierung um Premier Donald Tusk eine Anhebung auf 1500 Zloty brutto plant.
Im Forderungskatalog von »Solidarnosc«, der von Tusk persönlich entgegengenommen wurde, finden sich auch Forderungen nach einer Abkehr vom Klimaschutz. Die Gewerkschafter beharren auf einer Neuverhandlung des ohnehin bereits stark verwässerten EU-Klimapakets, da ihrer Ansicht nach die Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen würden. »Diese Klimapolitik bedeutet eine Katastrophe für die Gesellschaft, jeder Pole wird vom Anstieg der Energiepreise betroffen sein«, behauptete etwa »Solidarnosc«-Vorstandsmitglied Bogdan Bis.
»Solidarnosc« gilt als eine konservativ ausgerichtete Gewerkschaft, die in der Vergangenheit der rechtskonservativen Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) des ehemaligen Ministerpräsidenten Jarosaw Kaczyski nahestand. Die PiS ist derzeit die wichtigste Oppositionskraft in Polen. Aus Reihen von Tusks »Bürgerplattform« (PO) wird immer wieder der Vorwurf geäußert, daß die Verbindungen zur PiS weiter bestehen. Durch die Demonstration vom Donnerstag dürfte sich die PO bestätigt fühlen. Nach Ansicht von Beobachtern sind die Proteste bereits dem Vorwahlkampf zu den Parlamentsabstimmungen im Herbst 2011 zuzurechnen.