Sündenböcke im Angebot

„Junge Welt“, 09.02.2009
Ungarische Neofaschisten nutzen Krisenängste und hetzen gegen Roma und Juden

Ein regelrechter Aufschrei ging durch die ungarische Öffentlichkeit am vergangenen Mittwoch, nachdem Pläne ungarischer Roma publik wurden, eigene Selbstverteidigungsgruppen aufzubauen. Der Vorsitzender einer Roma-Interessenvertretung in der westungarischen Stadt Györ sagte gegenüber der lokalen Presse, in Reaktion auf die zunehmenden Übergriffe eine »Selbstverteidigungsgarde« aufbauen zu wollen. Padar, der zugleich als sozialistischer Stadtrat aktiv ist, betonte ausdrücklich, daß dieser Schritt als eine Antwort auf »die zunehmende Angst unter den Roma und Diskriminierung gegen die Roma in Ungarn« zu verstehen sei.Trotzdem war die Empörung groß: Vertreter nahezu aller politischen Parteien verurteilten das Vorhaben, erste Rücktrittsforderungen gegenüber Padar wurden laut, woraufhin der Roma-Stadtrat seine Pläne zurückzog.

Unterstützung erhielt diese Initiative hingegen vom Präsidenten des Roma-Rates in dem Örtchen Ivan, Tibor Vass. In Ivan war kurz zuvor die »Ungarische Garde« (Magyar Garda) aufmarschiert, eine faschistische, paramilitärische Formation der ungarischen Nazipartei »Jobbik«. Man wolle sich nicht mehr »in Angst verstecken müssen«, erklärte Vass. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge leben zwischen acht und zehn Prozent Roma in Ungarn, die von der extremen Rechten des Landes – neben der jüdischen Bevölkerung – zum wichtigsten Feindbild aufgebaut werden.

Doch es sind nicht nur Ungarns Nazis, die Ressentiments schüren. In den Medien werden immer öfter die Roma als Kriminelle dargestellt. In einer regelrechten, mit rassistischen Untertönen angereicherten Kampagne diskutiert die Öffentlichkeit derzeit über »Zigeunerverbrechen.« Symptomatisch für die derzeitige Stimmung in der Bevölkerung sind die hetzerischen Bemerkungen des Polizeichefs von Miskolc, Albert Pásztor. Dieser äußerte, daß alle Verbrechen in seiner Stadt ausschließlich von »Zigeunern« begangen werden. Der ungarische Justizminister feuerte Pásztor unverzüglich, doch mußte er diesen zu Beginn der vergangenen Woche wieder in sein Amt einsetzen, nachdem mehrere tausend Menschen in Miskolc für ihren rassistischen Polizeichef demonstriert hatten. Es komme ihm so vor, schrieb der Journalist Erik D’Amato am Mittwoch, als ob Ungarn zunehmend mit zwei Dingen beschäftigt sei: »Zu verhindern, so arm wie die Zigeuner zu werden, und mit den Zigeunern selber.«

In der Tat führen die marginalisierten und verarmten Roma den Ungarn tagtäglich vor Augen, welche Verelendung im Zuge der Wirtschaftskrise auf sie zukommen könnte.
Ungarns Ökonomie befindet sich im freien Fall. Die Währung ist binnen eines halben Jahres regelrecht abgestürzt: Ein Euro kostet nun über 300 Forint statt 230 Forint wie vor sechs Monaten. Hierdurch verteuerten sich die unzähligen in Devisen aufgenommenen Kredite der Ungarn, die als ein wichtiger Konjunkturmotor fungieren. Die Nachfrage und die Umsätze im Einzelhandel brachen folglich ein, die erste Entlassungswelle hat die Arbeitslosenrate bereits auf über acht Prozent ansteigen lassen. Allein der Absatz von Autos verringerte sich im Januar auf die Hälfte, während bereits 1400 Betriebe seit Krisenausbruch Insolvenz anmeldeten. Die ersten ausländischen Konzerne, wie etwa Bosch, der 500 Arbeitsplätze in Kecskemet liquidiert, zogen sich zurück.

Die radikale Rechte nutzt indes die begründeten Verelendungsängste der Ungarn und projiziert diese auf die Roma. »Jobbik« und die – trotz Verbot weiterhin aktive – »Ungarische Garde« organisieren beständig Aktionen gegen »Zigeunerverbrechen«. Sie bieten den Ungarn handgreifliche, konkrete Sündenböcke in der Krise an. Zumeist marschieren die Neofaschisten, die weiterhin die Árpád-Streifen der ungarischen Nazikollaborateure (der Pfeilkreuzler) tragen, provokativ direkt in den Roma-Ghettos auf.

Selbstverständlich werden auch »die Juden« für die Krise verantwortlich gemacht, die zur Verdinglichung des »raffenden« Finanzkapitals halluziniert werden. Die Naziideologie scheint in Teilen der verwirrten, verunsicherten Bevölkerung auf fruchtbaren Boden zu fallen. Bei den kommenden EU-Wahlen könnte »Jobbik« die Fünf-Prozent-Hürde nehmen, so Prognosen. Die letzten kommunalen Urnengänge brachten der Nazipartei sogar zwischen acht und zehn Prozent Wählerzuspruch ein.

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