„Junge Welt“, 29.11.2008
Wirtschaftskrise und fallende Rohstoffpreise haben Rußlands Boom ein Ende bereitet. Eine mögliche Rezession träfe vor allem das arme Drittel der Bevölkerung
Die Weltwirtschaftskrise hat Rußland voll erfaßt. Mit immer neuen Maßnahmenpaketen stemmt sich der Kreml verzweifelt gegen die Turbulenzen, die seit Sommer diesen Jahres den russischen Finanzsektor verwüsteten und nun die reale Ökonomie in Mitleidenschaft ziehen. So kündigte Finanzminister Alexej Kudrin am vergangenen Mittwoch an, im kommenden Jahr eine Billion Rubel (über 28 Milliarden Euro) aus der staatlichen Finanzreserve zur Kompensierung von Steuerausfällen zu verwenden.
In diversen Fonds hat Rußlands Führung die Überschüsse aus den Öl- und Gasexporten der letzten Jahre gehortet, umgerechnet etwa 150 Milliarden Euro. Doch der Griff in die Schatzkiste wird angesichts der Maßnahmen unabdingbar, die Premier Wladimir Putin auf dem Parteitag der Regierungspartei »Geeintes Rußland« am 20. November ankündigte. Da wäre zunächst die Absenkung der Unternehmenssteuern. Ab dem 1. Januar 2009 sollen diese von derzeit 24 auf 20 Prozent reduziert werden. Das allein beschert dem Staatshaushalt Mindereinnahmen von umgerechnet 14,8 Milliarden Euro. Für den Rüstungssektor sind umgerechnet weitere zwei Milliarden US-Dollar an Soforthilfen veranschlagt. Vor allem aber kündigte Putin die Anhebung der Arbeitslosenunterstützung von umgerechnet 55 US-Dollar auf 124 US-Dollar im Monat an. Eine Staatsgarantie für 98 Prozent der Bankeinlagen in Rußland gab’s obendrauf.
Der Vorsitzende des Russischen Verbandes der Industriellen und Unternehmer (RSPP), Alexander Schochin, zeigte sich von Putins Maßnahmenpaket »inspiriert«. Damit würden die Unternehmen wieder »Luft« bekommen, zitierte ihn die Nachrichtenagentur RIA-Nowosti. Schochin hatte Anfang Oktober in einem offenen Brief die Reaktionen des Kreml auf die Krise ungewöhnlich scharf kritisiert. Vor allem prangerte er die bevorzugte staatliche Unterstützung von Unternehmen mit guten Beziehungen zum Kreml an. »Die Prinzipien der staatlichen Hilfeleistung für Unternehmen sollten öffentlich und transparent sein«, hieß es in dem Schreiben. Die nun angekündigten Steuersenkungen sollen den RSPP, der oftmals auch als »Gewerkschaft der Oligarchen« bezeichnet wird, beruhigen und wohl auch dessen Klientel für die enormen Verluste entschädigen, die sie bereits erlitten hat.
Nominelle Vermögenswerte im Volumen von 300 Milliarden US-Dollar haben Rußlands Milliardäre und Multimillionäre seit Beginn der Krise eingebüßt. Der Aktienindex RTS verlor zwischen Mai und November ca. 60 Prozent seines Wertes, nicht zuletzt, weil ausländische Investoren ihr Kapital abziehen mußten, um ihren Finanzverpflichtungen nachzukommen.
Ausgelöst durch einen »gewinnÂorientierten« Wirtschaftskurs befindet sich bereits jetzt ein Teil des russischen Energiesektors in ernsten Schwierigkeiten. Viele dieser Unternehmen bildeten keine Rücklagen, die Gewinne flossen als Dividenden in die Taschen der Aktionäre. Am 10. Oktober ließ beispielsweise der Ölkonzern TNK-BP seinen gesamten Halbjahresgewinn von zwei Milliarden US-Dollar ausschütten.
Auch am Immobilienmarkt geht es rückwärts. Die Preise für Häuser und Wohnungen sind real bereits um 30 Prozent gefallen, das Baugewerbe beklagt einen starken Auftragseinbruch. Ein staatliches Hilfsprogramm sieht den Aufkauf von 40 000 Wohnungen vor, um den freien Fall der Preise zu bremsen. Neben Rohstoffsektor und Baugewerbe rechnet auch der Einzelhandel mit massiven Gewinn- und Umsatzeinbußen, da der private Konsum als Konjunkturmotor ausfallen wird. Zwar gehen offizielle Prognosen für dieses Jahr noch von einem Wirtschaftswachstum von sieben, für 2009 von drei Prozent aus. Analysen sehen Rußland indes 2009 in einer Rezession – um rund 1,8 Prozent werde die Wirtschaft in der ersten Hälfte 2009 schrumpfen, meldete der österreichische Standard.
Diese Rezession würde eine sozial zutiefst gespaltene Gesellschaft treffen. Welten trennen die neureichen Eliten aus Oligarchie und Regierungsbürokatie und die Bevölkerungsmehrheit. Die Einkünfte des reichsten Zehntels der russischen Gesellschaft überstiegen die des ärmsten Zehntels im Jahr 2000 um das 14fache. 2008 kassierte diese Oberschicht 17 mal mehr. Die Vermögensexplosion der Oligarchie verzerrt auch die Statistik bezüglich der scheinbar rasch steigenden Löhne, wie RIA-Nowosti in einer Analyse ausführte: Den durchschnittlichen Lohn (2007: 12 500 Rubel beziehungsweise 500 Dollar pro Monat) erhält in Rußland keineswegs die Mehrheit der Bevölkerung, »weil er sich aus den Supereinkünften einer dünnen Schicht der Topbeamten und den niedrigen Löhnen und Gehältern des überwiegenden Teils der arbeitsfähigen Bevölkerung zusammensetzt.« Schließlich beruhen die »Erfolge« des Kreml bei der Armutsbekämpfung größtenteils auf statistischer Kosmetik. Es lebten weit mehr als die offiziell gezählten 15 Prozent der Russen unterhalb des Existenzminimums, führte kürzlich der Chef des Föderationsrats, Sergej Mironow, aus: »Die offizielle Statistik senkt den Maßstab der Armut innerhalb der russischen Bevölkerung erheblich. Real ist nicht weniger als ein Drittel der Russen arm.«
Der Kreml scheint selbst seinen eigenen Statistiken nicht zu trauen. Am 10. November gab Präsident Dmitri Medwedew den Polizeikräften des Landes die Anweisung, rücksichtslos gegen soziale Unruhen vorzugehen: »Wenn jemand versucht, die Konsequenzen der Finanzkrise auszunutzen, müssen die Einsatzkräfte intervenieren und Anklage erheben«, da es ansonsten keine Ordnung mehr gebe.