„Junge Welt“, 24.07.2008
Man kann nicht nur das Rad neu erfinden. Klimatologe aus den USA hat, ohne es zu merken, Marx für sich entdeckt und nennt es verbrecherisch, »daß in Washington Geld spricht«
Der US-amerikanische Klimawissenschaftler James E. Hansen kann getrost zur akademischen Elite seines Landes gezählt werden. Er ist Professor für Erd- und Umweltwissenschaften an der renommierten Columbia University und steht bei der US-Raumfahrtagentur NASA dem Goddard Institute for Space Studies vor. In den 80er Jahren war Hansen einer der ersten Wissenschaftler, die eindringlich vor den Folgen der Erderwärmung warnten.
Anläßlich des 20. Jahrestages seiner ersten Anhörung zu Ursachen und Folgen des Klimawandels vor dem US-Kongreß sprach er kürzlich erneut vor dem Unterhaus in Washington. Seine Rede war diesmal deutlich unversöhnlicher. Die Chefs der wichtigsten Energieunternehmen und Ölkonzerne gehörten angeklagt wegen »Verbrechen gegen Menschheit und die Natur«, erklärte der Klimatologe. Ölmultis hätten durch die Finanzierung von Klimaskeptikern die Debatte um die Erderwärumg verzerrt und wirksame Gegenmaßnahmen über Jahre verhindert.
Gegenüber der britischen Zeitung The Guardian (Ausgabe vom 23. Juni) konkretisierte Hansen seine Vorwürfe: »Wenn du in solch einer Position bist, als Vorstandsvorsitzender eines der wichtigsten Konzerne der Welt, und dieser Konzern hat Desinformationen verbreiten lassen, durch Organisationen, die sogar den Inhalt von Schulbücher beeinflussen, dann meine ich, daß dies ein Verbrechen ist.« Gemünzt war diese Einschätzung auf Exxon-Mobil.
Die Propaganda-Kampagne des größten Ölkonzerns der Welt entfaltete eine besonders verheerende Wirkung. Der Ölmulti investierte seit den 90ern Millionenbeträge in scheinbar seriöse und unabhängige Denkfabriken und Institute, die Zweifel über den wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel und notwendigen Gegenmaßnahmen säten. Zu Exxons Spendenempfängern zählten einige der bekanntesten, angeblich »unabhängigen« Denkfabriken der USA, darunter American Enterprise Institute (AEI), das Cato Institute oder die Heritage Foundation.
Eine beliebte Taktik in der Öffentlichkeitsarbeit der Exxon-Lobbyisten bestand darin, Pseudowissenschaftler medial aufzubauen, die den Eindruck erweckten, daß es eine kontroverse Diskussion über die Ursachen der Erderwärumg innerhalb der Wissenschaft gebe. Die Lobbyisten des Ölmultis waren neben den USA auch in Europa aktiv.
Mediale Flankendeckung erhielten diese Kampagnen vom Medienimperium des erzreaktionären Milliardärs Rupert Murdoch, dessen US-Fernsehsender FOX-News trotz anderslautender Beteuerungen seines Besitzers noch in diesem Jahr Zweifel an den Ursachen des Klimawandel säen ließ.
Natürlich versuchten es die Lobbygruppen der Energiemultis auch mit simpler Bestechung. So bot das AEI im Februar 2007 etlichen Wissenschaftlern und Ökonomen bis zu 10000 US-Dollar für Artikel, in denen der wissenschaftliche Konsens über den Klimawandel in Frage gestellt würde. Diese Lobbygruppen und ihre mächtigen Auftraggeber sind laut Hansen das Kernproblem der politischen Ordnung: »Es ist Tatsache, daß in Washington Geld redet, und daß die Demokratie keineswegs so funktioniert, wie sie sollte.« 2005 und 2006 gab es übrigens auch seitens der Administration der NASA eine ganze Reihe von Versuchen, Hansen zum Schweigen zu bringen.
Die Zeit zu handeln sei äußerst knapp bemessen, warnte Hansen in seiner Rede vor dem Kongreß am 23. Juni. »Elemente eines perfekten Sturms« seien nachweisbar, eine »globale Katastrophe« stehe kurz bevor. Zu hoch sei die erreichte Konzentration von CO2-Partikeln in der Atmosphäre (das Verhältnis liegt bei 385 zu einer Million, vor der Industrialisierung lag es bei 300 zu einer Million). Das Klima könnte sehr bald einen »Punkt des Umkippens« erreichen. Sei dieser Punkt überschritten, würde es sich mittels positiver Rückkopplungen »dynamisch jeglichen Kontrollversuchen der Menschheit entziehen«.
In einer im Mai 2007 publizierten Arbeit entwickelt Hansen den Begriff des »Schnellen Rückkopplungseffekts« (fast-feedback-effect), den er am Beispiel der sprunghaft schwindenden Eisdecke in der Arktis erläutert. Demnach schmilzt das Eis an den Polen nicht langsam und graduell über die Jahrhunderte, sondern schlagartig, binnen kürzester Zeit. Das gesamte arktische Klimasystem würde entsprechend schlagartig »kollabieren«, d. h. von einem Zustand (geschlossene Eisdecke Polarmeer) in einen anderen (eisfrei im Sommer) umschlagen.
Was Hansen hier entdeckt hat, ist eine alte Gesetzmäßigkeit materialistischer Dialektik. Die geht seit Marxens Zeiten davon aus, daß beständige, quantitative Änderungen in einem komplexen System – wie in diesem Fall der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre – ab einem bestimmten Punkt zu einem plötzlichen, qualitativen Sprung führen, der das System in einen gänzlich anderen Zustand überführt. Wie dieses »Umschlagen von Quantität in Qualität« vonstatten geht, kann jeder seit 1878 im »Anti-Dühring« und seit 1883 in der »Dialektik der Natur« nachlesen. Im gewissen Sinne entdeckt die Naturwissenschaft gerade die Marxsche Dialektik neu – freilich, ohne dies zu bemerken.