„Junge Welt“, 10.07.2008
Ungarns Sozialdemokraten mit neuen Plänen für Gesundheitsreform und Sozialabbau
Ungarns regierende Sozialdemokraten wollen es noch einmal wissen. Informationen der Wirtschaftszeitung Napi Gazdaság zufolge will der neue ungarische Gesundheitsminister Tamás Székely einen zweiten Anlauf zur Privatisierung des Gesundheitswesens nehmen. Die Pläne zur Einführung privater Krankenkassen war auf Eis gelegt worden, nachdem Teile der Gesundheitsreform der damaligen liberal-sozialdemokratischen Regierung bei einem Referendum mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurden. Mit über 82 Prozent stimmten die Ungarn am 9. März gegen die Einführung von Gebühren bei Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten wie auch gegen geplante Studienabgaben.
Die auf diese verheerende Niederlage folgende Regierungskrise führte zum Zusammenbruch der sozialliberalen Koalition und zur Bildung einer Minderheitsregierung unter dem alten und neuen Premier Ferenc Gyurcsany. Ähnlich dem bereits gescheiterten Privatisierungsgesetz sieht die neue Reform die Einführung privater »regionaler Gesundheitsfonds« vor, die als Krankenkassen fungieren sollen. Deren Anzahl wurde von 22 auf sieben gesenkt. Kliniken und Krankenhäuser sollen autonom entscheiden können, mit welchen dieser »Gesundheitsfonds« sie vertragliche Verpflichtungen eingehen. Laut dem sozialdemokratischen Abgeordneten Mihaly Kokeny solle aber das nationale Gesundheitswesen nicht gänzlich privatisiert werden, wie dieser in der vergangenen Woche gegenüber der Presse ausführte.
Die Regierung Gyurcsany wird bei diesem Vorhaben auf die Unterstützung ihrer ehemaligen Koalitionspartner, dem liberalen Bund der Freien Demokraten (SZDSZ), angewiesen sein, da beide Parteien aus Angst vor eventuellen vorgezogenen Neuwahlen zur informellen Zusammenarbeit verdammt sind. Die konservative Partei Fidesz des Oppositionsführers Viktor Orban, die das Referendum über die Gesundheitsreform aus populistischen Erwägungen heraus unterstützte, lehnte bereits auch das neue Reformvorhaben ab.
Auf die Unterstützung seiner ehemaligen marktradikalen Koalitionspartner kann Premier Gyurcsany auch bei weiteren »Reformvorhaben« zählen. Auf Druck der Unternehmerverbände, die Steuerentlastungen von umgerechnet vier Milliarden Euro fordern, planen Ungarns Sozialdemokraten für 2009 eine umfassende Steuerreform, die laut Finanzminister János Veres mit »substantiellen Steuer-erleichterungen« einhergehen werde. Im August will die sozialdemokratische Regierung ihre entsprechenden Vorschläge bereits zur Diskussion stellen, erklärte Veres am 7. Juli. Wo das Geld für die Steuerausfälle herkommen soll, machte Gyurcsany vor einer Regieungs- und Parteitagung im noblen Ferienort Doblogoko klar: Die Regierung müsse ihr »generöses System öffentlicher Versorgungsleistungen« zurückschrauben und das Steuersystem vereinfachen, bevor die Steuern gesenkt werden könnten, dozierte Ungarns »sozialdemokratischer« Regierungschef. Das gesamte Sozialsystem müsse »umgestaltet« werden, drohte Gyurcsany.
Auch bei diesem Vorhaben können die Sozialdemokraten nicht auf den Beistand der Fidesz zählen. Deren Vorsitzender hat mit einem handfesten »Lügenskandal« zu kämpfen, der die Verlogenheit der populistischen Strategie dieser erzkonservativen Partei offenlegte. Der sich als soziales Gewissen des Landes präsentierende stramm rechte Viktor Orban erklärte bei einer geschlossenen Parteisitzung Ende Juni, im Fall eines Wahlsieges das Renten- und Pensionsniveau einzufrieren und jegliche Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur einzustellen. Dieser Skandal, der ersten Hochrechnungen zufolge die Fidesz 500000 Wählerstimmen kosten könnte, erinnert an die Äußerungen des »Lügenpremiers« Gyurcsany. Dieser hatte kurz nach der letzten gewonnen Parlamentswahl erklärt, die Wähler während des Wahlkampfs »von Anfang bis Ende belogen zu haben«.