„Junge Welt“, 25.06.2008
Ausgezeichnete Geschäftsaussichten der BRD-Wirtschaft befördern Kurswechsel der EU-Rußlandpolitik
Berlin kann zweifelsfrei als die treibende Kraft hinter der russisch-europäischen Annäherung identifiziert werden. Dmitri Medwedew, Rußlands neuer Präsident, besuchte Anfang Juni Deutschland als erstes westliches Land, während Kanzlerin Angela Merkel als erste ausländische Regierungschefin nur wenige Tage nach dessen Amtsantritt in Moskau vorstellig wurde. »Das ist ein besonderes Zeichen, das von guten Perspektiven der russisch-deutschen Partnerschaft, der respektvollen und gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit zeugt«, lautete das Resümee Medwedews auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Regierungschefin aus Berlin.
Seinen wichtigsten Auftritt hatte der neue russische Staatschef am 5. Juni in dem noblen Berliner Hotel Interconti, wo der Ost-Ausschuß der BRD-Wirtschaft an die 700 Spitzenvertreter des deutschen Kapitals zusammentrommelte, die den Putin-Nachfolger im Kreml begutachten wollten. Offensichtlich konnte Medwedew die erschienenen Kapitallenker überzeugen. »Die deutsche Wirtschaft setzt große Hoffnungen in den neuen russischen Präsidenten«, erklärte der Vorsitzende des Ost-Ausschusses, Klaus Mangold. Auch der Präsident der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, Heinrich Weiss, zeigte sich zufrieden, da Medwedew die »richtigen Akzente« in der Wirtschaftspolitik setze: »Die Liberalisierung der russischen Wirtschaft, mehr Rechtsstaatlichkeit, die Förderung des Mittelstandes und die Innovationsförderung sind wichtige Schwerpunkte«, so der Verbandsvertreter.
Tatsächlich gehört Rußland inzwischen zu den wichtigsten Expansionszielen des deutschen Kapitals. Rund 4600 Unternehmen aus der BRD machen gegenwärtig zwischen St. Petersburg und Wladiwostok überwiegend sehr gute Geschäfte. Der bilaterale Handel und die Investitionstätigkeit verzeichnen ein stürmisches Wachstum. Allein 2007 stiegen – bei einem Außenhandelsumsatz von rund 57 Milliarden Euro – die deutschen Exporte gen Rußland wertmäßig um 20 Prozent auf mehr als 28 Milliarden Euro, während die deutschen Investitionen in der Russischen Föderation sich inzwischen auf 15 Milliarden Euro belaufen. Laut Mangold können aus Deutschland allein in diesem Jahr zwei weitere Milliarden gen Moskau und St. Petersburg fließen. Inzwischen ist die Bundesrepublik der größte ausländische Investor im russischen Industriesektor.
Während deutsche Unternehmen hauptsächlich hochentwickelte Industrieprodukte nach Rußland ausführen, bestehen die russischen Exporte weiterhin größtenteils aus Energieträgern. Mehr als 80 Prozent der Ausfuhren Moskaus entfallen auf Rohstoffe, nur 15 Prozent auf industrielle Güter. Die seit Jahren von Medwedews Amtsvorgänger Wladimir Putin angekündigte »Modernisierung« der russischen Ökonomie ist bislang ausgeblieben; Rußland hängt weiterhin am Tropf der sprudelnden Deviseneinnahmen aus dem Erdöl- und Erdgasexport.
Die exzellenten Renditeaussichten angesichts eines in Petrodollars schwimmenden, modernisierungsbedürftigen russischen Absatzmarktes wollen sich die Spitzen des BRD-Kapitals inzwischen offensichtlich auch nicht mehr von ihrem politischen Personal zerreden lassen. Nunmehr sei aus den Reihen der deutschen Wirtschaft ein leises »Klagen über Merkels Kritik am Kreml« vernehmbar, meldete Spiegel online anläßlich der Medwedew-Visite in Berlin.