„Junge Welt“, 25.06.2008
Zwischen Kooperation und Konfrontation: Rußland und die EU wollen beim Gipfeltreffen am Donnerstag und Freitag ihre Beziehungen auf ein »neues Fundament« stellen
Moskau und Brüssel wollen es scheinbar noch einmal miteinander versuchen. Auf dem Rußland-EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag im westsibirischen Chanty-Mansisk sollen die Animositäten der Vergangenheit überwunden und dauerhafte Partnerschaftsbeziehungen zwischen beiden Seiten initiiert werden. Sie sehe das Verhältnis zu Rußland als eine der »wichtigsten Prioritäten« der Europäischen Union, deklarierte EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner am 18. Juni vor dem Europäischen Parlament. »Ich denke, wir haben die Gelegenheit, unsere essentielle Partnerschaft mit unserem größten Nachbarn gänzlich neu zu definieren«, so die ehrgeizige Zielsetzung Ferrero-Waldners für den Gipfel.
Dabei konnten bislang nicht einmal die Gespräche über einen Folgevertrag zu dem Grundlagenabkommen zwischen Rußland und der EU aufgenommen werden, das im Dezember 2007 auslief. Polen und Litauen blockierten die Aufnahme der entsprechenden Verhandlungen über ein neues, strategisches Abkommen, da der Kreml Handelssanktionen gegen polnische Fleischprodukten verhängt hatte. Erst mit dem Amtsantritt Dmitri Medwedews signalisierten Warschau und Vilnius ihre Bereitschaft, ihre Vetos gegen die Aufnahme der Gespräche zurückzuziehen. Folglich erklärte Andrej Benedejcic, der slowenische Botschafter in Moskau, dessen Land noch bis Monatsende den Vorsitz der EU innehat, daß die Verhandlungen über ein strategisches Partnerschaftsabkommen mit Rußland auf dem Gipfel von Chanty-Mansisk offiziell beginnen sollen.
Für Ferrero-Waldner bildet dieser neue Grundlagenvertrag ein »Herzstück« der europäischen Rußland-Politik, wobei auf dem Gipfel auch nach weiteren »gemeinsamen Interessen« gefahndet werden soll. Von zentraler Bedeutung für beide Seiten ist hierbei die wirtschaftliche Kooperation. Der europäische Handelskommissar Peter Mandelson forderte Rußland am 19. Juni auf, die Wirtschaftsbeziehungen auf ein »neues Fundament« zu stellen, den russischen Energiesektor für europäische Investitionen zu öffnen und eine langfristige strategische »Energieabmachung« einzugehen: »Sicherheit bei der Versorgung, gepaart mit Sicherheit bei der Nachfrage; eine reziproke Offenheit bei Investitionen; Garantien des freien Transits auf beiden Seiten« – mit diesen Stichworten umriß Mandelson seine Vorstellungen einer wirtschaftlichen Annäherung an Moskau. Ihm schwebe ein Mechanismus vor »ähnlich dem zwischen der EU und China«, erklärte der Handelskommissar.
Zudem schwang sich Mandelson, der vor einer Woche in Moskau mit einer Reihe hochrangiger russischer Politiker Vorgespräche zum Gipfel führte, zum Anwalt einer Mitgliedschaft Moskaus in der Welhandelsorganisation WTO auf. Mitgliedsstaaten der WTO sollen den Beitritt Rußlands nicht weiter »aus politischen Gründen blockieren«, forderte der Handelskommissar, der mit dieser Bemerkung insbesondere das südkaukasische Georgien meinte. Moskau erhofft sich aber vor allem eine größere Investitionsfreiheit in der Europäischen Union, da etliche EU-Länder russische Investitionen in deren Energiesektoren mit protektionistischen Maßnahmen bisher verhinderten. Überdies meldete am 20. Juni die russische Nachrichtenagentur RIA-Novosti, daß Rußland und die EU ein »Atomabkommen« schließen wollen, in dessen Rahmen russische »Nuklearerzeugnisse« breiten Zugang auf den europäischen Markt erhalten sollen.
Doch herrscht beileibe nicht nur eitel Sonnenschein in den Beziehungen. Für besonderes KonfiktpotenÂtial sorgt das aggressive Engagement Brüssels in weiten Teilen des postsowjetischen Raumes, einer traditionellen Einflußsphäre des Kreml. So warnte Ferrero-Waldner Rußland beispielsweise davor, Schritte zu unternehmen, die die »georgische und ukrainische Souveränität und Integrität« gefährden würden. Die EU will sich als »Vermittlerin« im geostrategisch wichtigen Kaukasus profilieren, wo Moskau die abtrünnigen, ehemals zu Georgien gehörenden Republiken Südossetien und Abchasien unterstützt. Zudem fördert Brüssel die Einbindung der Ukraine ins westliche Bündnissystem, indem sie deren angestrebte Einbindung in die NATO durch Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen flankiert. Schließlich spielen europäische Diplomaten beim geopolitischen Machtkampf um die energetischen Ressourcen Zentralasiens eine wichtige Rolle, bei dem der Westen sich bemüht, die dominierende Stellung Rußlands in dieser Region zu unterminieren.