„Junge Welt“, 19.06.2008
Geheimverhandlungen zwischen Washington und Vilnius über Stationierung des Raketenschutzschilds. Soll Warschau unter Druck gesetzt werden?
Die USA verstärken in Sachen ihres geplanten Raketenabwehrsystems den Druck auf Polen. Wie am Mittwoch bekannt wurde, führt Washington geheime Verhandlungen mit der baltischen Republik Litauen über deren Beteiligung an dem in Osteuropa geplanten, gegen Rußland gerichteten Militärprojekt. »Die Vereinigten Staaten sprechen mit Litauen über die Möglichkeit der Stationierung von Elementen des Schutzschildes, sollten die Gespräche mit Polen scheitern«, erklärte der mit den diesbezüglichen Verhandlungen beauftragte polnische Vizeaußenminister Witold Waszczykowski am Mittwoch. Laut Waszczykowski habe der litauische Verteidigungsminister in der Hauptstadt Vilnius einen solchen Vorschlag bereits im Mai den USA unterbreitet. »Wir wissen, daß der stellvertretende litauische Verteidigungsminister (Renatas Norkus, d.A.) sie (die USA) um Gespräche über die Raketenabwehr gebeten, und John Rood, den amerikanischen Verhandlungsführer, nach Vilnius eingeladen hat.« Dies habe er aus US-Kreisen erfahren.
Bislang plante Washington den Aufbau einer Radarstation in Tschechien, sowie die Stationierung von zehn Abfangraketen in Nordpolen. Rußland nimmt dieses Vorhaben als eine Bedrohung seiner nuklearen Abschreckungsfähigkeit war und übte heftige Kritik daran. Die USA dagegen behaupten, die Einrichtung würde sich gegen »die Gefahr von Raketen aus dem Iran« richten. Waszczykowski betonte gegenüber der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, daß eine in Litauen stationierte US-Raketenbasis in »der Nähe russischer Militärstützpunkte« errichtet würde. »Es ist schwer vorstellbar, daß eine solche Lokalisierung nicht zu einem größeren Widerstand Rußlands führen würde, als die Lokalisierung der Installation in Polen«, erläuterte der Vizeaußenminister.
Der litausche Außenminister Petras Vaitiekunas verweigerte am Mittwoch gegenüber Reuters jegliche Stellungnahme. Dafür bestätigte der Sprecher des US-Außenministeriums, Tom Casey, daß mit Litauen »allgemeine Gespräche« über dieses Thema geführt werden. Sprecher des Pentagon wollten aber diese Konsultationen ausdrücklich nicht als offizielle »Verhandlungen« bezeichnet sehen. »Litauen ist eins der Länder, das Teile der Raketenabwehr aufnehmen könnte, sollten die Gespräche mit Polen scheitern«, erklärte Geoff Morell, der Pressesprecher des Pentagon. Morell betonte, daß es der scheidenden Bush-Administration darauf ankomme, noch vor den Wahlen im November die Verhandlungen zum Abschluß zu bringen, weswegen »weiterhin dynamische Gespräche mit Polen« geführt werden, es aber gleichzeitig »Ersatzoptionen« geben müsse.
Aus den Reihen der Warschauer Verhandlungsdelegation hieß es gegenüber der polnischen Nachrichtenagentur PAP am Mittwoch, daß Washington zwar keinen formellen Termin für den Abschluß der Verhandlungen mit Polen gesetzt habe, doch der »letzte Moment« für eine Zustimmung Warschaus zum Raketenschild »höchstwahrscheinlich Ende Juli« gekommen sein wird. Die neoliberale Reigerung um Premier Donald Tusk verlangt von Washington im Gegenzug für die Beteiligung an der Raketenabwehr umfassende Sicherheitsgarantien und milliardenschwere Finanzhilfen zur Modernisierung der polnischen Luftabwehr.
Warschau ist vor allem an den modernen Kurz- und Mittelstreckenraketen Patriot PAC-3, THAAD und AMRAAM interessiert. Die USA sind bislang nicht bereit, diesen Forderungen in nennenswerten Ausmaß nachzukommen. Die Verhandlungen Washingtons mit Tschechien gelten hingegen als nahezu abgeschlossen, so daß Anfang Juli ein entsprechender Vertrag unterzeichnet werden soll.