„Junge Welt“, 11.06.2008
Neoliberaler Kurs sorgt für Unruhe in der sozialdemokratischen Partei MSZP. Deren Führung läßt sich von Rechtsliberalen unterstützen
Einen Monat nach Bildung einer Minderheitsregierung haben die ungarischen Sozialdemokraten (MSZP) eine positive Bilanz ihrer eigenen Politik gezogen. Angeblich wurden mehr Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht als in den letzten drei Monaten der krisengeplagten Koalition mit dem wirtschaftsliberalen Bund der Freien Demokraten (SZDSZ). Die Allianz war zerbrochen, nachdem in einer Volksabstimmung am 9. März über 82 Prozent der Ungarn die Einführung von Gebühren bei Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten sowie Studiengebühren abgelehnt hatten. Seitdem befinden sich beide Parteien in einer Krise. Die neoliberale Offensive aber konnte in Ungarn zumindest vorläufig aufgehalten werden.
Der am 9. Juni zum Vorsitzenden des SZDSZ gewählte Gábor Fodor beteuerte unverzüglich nach Amtsantritt, es gebe für seine rechtsliberale Partei »keinen Weg zurück« ins Kabinett des Sozialdemokraten Ferenc Gyurcsány. Trotzdem könnte dessen Minderheitsregierung bis zur nächsten regulären Wahl 2010 Bestand haben. Denn bei etlichen Abstimmungen haben die Rechtsliberalen in den vergangenen Wochen ihre Stimmen der MSZP geliehen. Der Grund ist simpel: Ebenso wie die Sozialdemokraten fürchten sie vorgezogene Neuwahlen. Nur noch 19 Prozent aller Interviewten wollen Gyurcsány in einer »wichtigen politischen Position« sehen, während die SZDSZ bei drei Prozent liegt. Die konservative Oppositionpartei Fidesz mit ihrem populistischen Vorsitzenden Viktor Orbán käme derzeit hingegen auf 67 Prozent der Stimmen.
Trotzdem bringt die Führung der zerfallenden MSZP noch immer neoliberale Initiativen auf den Weg. Die Sozialdemokraten konnten dabei auf die Stimmen der Liberalen zählen – beispielsweise bei dem von ihnen geplanten »Neuen Eigentumsprogramm«, in dessen Rahmen die verbliebenen staatlichen Unternehmen zum Teil privatisiert werden sollen. Einen weiteren Vorstoß starteten die Unternehmerverbände Ungarns bei einer Konferenz Anfang Juni: Sie forderten den anwesenden Wirtschaftsminister zu massiven Steuersenkungen auf. Nach Ansicht der »Nationalen Vereinigung der Unternehmer und Arbeitgeber« (VOSZ) Ungarns müßte die Steuerlast für ihre Mitglieder um umgerechnet 4,1 Milliarden Euro sinken. Die Einbußen für den Staatshaushalt sollten durch »Umstrukturierungen« kompensiert werden. Sándor Demján, der Vorsitzende der VOSZ und zugleich der reichste Mann des Landes, gab sich aber skeptisch ob der Erfolgsaussichten einer solchen Steuersenkung. »Reaktionäre Elemente innerhalb der regierenden Sozialisten« wollten die »Reformen« verhindern.
Damit meinte Ungarns oberster Oligarch die progressiven Strömungen innerhalb der sozialdemokratischen Partei, die das Aus für die MSZP verhindern und mit der neoliberalen Politik brechen wollen. Anhänger des sozialdemokratischen Politikers István Komáromi sammelten bereits über 1000 Unterschriften, um einen Sonderparteitag im Oktober zu erzwingen. Ziel ist es, Parteichef Gyurcsány abzulösen.