„Junge Welt“, 13.06.2008
»Nahrungsmittelunsicherheit« – steigende Energie- und Lebensmittelpreise sowie Immobilienkrise beschleunigen Pauperisierungstendenzen in den Vereinigten Staaten
Es war eine gespenstische Autofahrt, von der jüngst der US-Journalist Alexander Cockburn berichtete. Er sei am letzten Samstag im Mai, nachmittags während des verlängerten Wochenendes am Memorial Day (US-Feiertag), auf der Bundesstraße 199 zwischen zwischen Oregon und Kalifornien unterwegs gewesen. Normalerweise sei dies zu solch einer Hauptverkehrszeit eine aufreibende Strecke, die man im dichtesten Verkehr, »Stoßstange an Stoßstange« bewältigen müsse. Doch an diesem Wochenende konnte Cockburn diese Strecke in Rekordzeit zurücklegen. Das Verkehrsaufkommen sei so niedrig gewesen sei, als ob es »zwei Uhr nachts wäre«.
Die rasant steigenden Treibstoffpreise lösten Cockburn zufolge derzeit einen mit der Ölkrise von 1973 vergleichbaren »Schock« in der US-Bevölkerung aus. Diese müsse sich an Benzinpreise gewöhnen, die »dreimal höher sind als vor vier Jahren«. Viele der Familien, die für gewöhnlich über das verlängerte Wochenende längere Spritztouren unternähmen, hätten sich angesichts eines Preises von vier Dollar für die Gallone (ca. 3,8 Liter) Benzin dafür entschieden, den Memorial Day in der nächstgelegen Mall zu verbringen. Nicht nur die typischen Highway-Motels und die Tourismusbranche insgesamt dürften unter der sinkenden Reiselust der US-Bürger zu leiden haben. Auch das Transportgewerbe meldet bereits über tausend Pleiten kleinerer Unternehmen. Die selbständigen Trucker, die nahezu ein Fünftel der Warentransporte in den USA bewältigen, stehen laut Cockburn aufgrund steigender Benzinpreise »unmittelbar vor dem Ruin«.
Breite Schichten der US-Bevölkerung sind schlicht außerstande, die auf sie zugekommenen Mehrkosten zu tragen. Inzwischen geht die Krise in den USA an die Substanz: Die seit Dekaden mit stagnierenden Reallöhnen konfrontierte untere Mittelklasse sieht sich angesichts der geplatzten Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt und steigenden Lebenshaltungskosten einem Pauperisierungsprozeß ausgesetzt, einer Verarmung im großen Stil, die die Sozialstrukturen der USA nachhaltig zu verändern droht. Ein TV-Report des US-Senders MSNBC befaßte sich jüngst mit scheinbar der Mittelschicht zugehörigen Lohnabhängigen. Die haben ihre eigenen Häuser, eine feste Arbeitsstelle und sind dennoch genötigt, von gemeinnützigen Lebensmitteltafeln Nahrung zu beziehen. An die 50 bis 60 Prozent ihrer »Kunden« kommen aus der abgestürzten Mittelklasse, erklärte die Direktorin einer solchen Tafel im US-Bundesstaat Virginia gegenüber MSNBC.
Der Ölpreis verteuere alle anderen Waren, ergänzte ein Vertreter von »Second Harvest«, der Vereinigung von US-Lebensmitteltafeln: »Wenn der Benzinpreis weiter steigt, werden wir eine Katastrophe erleben.« Viele dieser Einrichtungen zur Speisung Bedürftiger sind nicht mehr in der Lage, allen Betroffenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. Denn zugleich lasse die Spendenbereitschaft von Privatpersonen und Unternehmen nach, beklagen die Verantwortlichen. Eine jüngst durchgeführte Umfrage unter den 180 in »Second Harvest« zusammengeschlossenen Organisationen ergab, daß 99 Prozent von ihnen eine Zunahme von Lebensmittelempfängern registrierten, die durchschnittlich 20 Prozent betrug. In 33 Großstädten stieg die Zahl der Bedürftigen sogar weitaus stärker – um bis zu 63 Prozent binnen weniger Monate. Laut Vicki Escarra, der Vorsitzenden von Second Harvest, handelt es sich bei der jetzigen Krise um die »mit Abstand schlimmste Situation« innerhalb der 30 Jahre, in denen der gemeinnützige Verband aktiv ist.
Dabei waren Hunger und Unterernährung schon vor Ausbruch der Krise in den USA durchaus heimisch. Der Präsident der Nichtregierungsorganisation Food Research and Action Center, Jim Weill, war am 16. April während einer Anhörung vor einem Unterausschuß des US-Repräsentantenhauses bestrebt, den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Demnach waren bereits 2006, also vor Ausbruch der Finanzkreise und der aktuellen Teuerungswelle, 35 Millionen US-Bürger finanziell nicht in der Lage, sich adäquat mit Lebensmitteln zu versorgen. Dies seien elf Prozent aller Haushalte, so Weill. Familien mit Kindern seien sogar zu 16 Prozent von dieser sogenannten Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Zudem waren 2006 weitere zehn Prozent aller Haushalte mit Kindern in Gefahr, sich ebenfalls nicht mehr ausreichend ernähren zu können. Aufgrund der seitdem rasant gestiegenen Inflation und der Auswirkungen der Immobilienkrise dürfte ein Großteil dieser Menschen sich inzwischen ebenfalls im Status der »Nahrungsmittelunsicherheit« befinden. Die Lebensmittelpreise stiegen in den USA im letzten Quartal um sechs Prozent. Dies war der stärkste Preisschub seit 18 Jahren.
Dabei sind die US-Statistiken – ähnlich den amtlichen deutschen Zahlen – maßlos geschönt. Der renommierte US-Journalist Chris Hedges bezeichnete bei einer vielbeachteten Rede die offiziellen Regierungsangaben als »Potemkinsche Statistiken«, die den Interessen des US-Kapitals zugute kämen. So wäre die US-Wirtschaft längst als in der Rezession verortet, würden keine statistischen Tricks angewendet, erklärte Hedges. Die Inflationsrate müßte mit rund zehn Prozent angegeben werden, würde man noch die in den 70er Jahren übliche Berechnungsmethode anwenden. Auch der Begriff »arbeitslos« sei so oft modifiziert worden, daß die offiziellen Daten nun »wertlos« seien. Die reelle Arbeitslosigkeit in den USA dürfte bei zehn Prozent liegen – und nicht bei den 5,5 Prozent, die kürzlich angegeben wurden.