Ungarn: Zug ins neoliberale Nirgendwo

„Junge Welt“, 29.02.2008
Regierung plant Verschärfung des Streikrechts, um renitente Bahngewerkschaft zu brechen

Am 25. Februar war es mal wieder so weit: Die ungarische Eisenbahnergewerkschaft VDSZSZ ließ zwischen Mitternacht und neun Uhr früh viele Räder stillstehen, was zur massiven Zugausfällen und Verspätungen im Nah- und Fernverkehr führte. Seit November letzten Jahres treten die kämpferischen Gewerkschaftler immer wieder in den Ausstand, um gegen geplante Stillegungen von Bahnlinien oder für Lohnerhöhungen zu kämpfen. Mit dem jüngsten »rollenden Streik«, so Gewerkschaftschef Istvan Gasko wörtlich, wolle man »genügend Druck« vor den nächsten Lohnverhandlungen mit der Ungarischen Staatsbahnen (MAV) aufbauen.

Die Eisenbahner fordern Lohnerhöhungen um zehn Prozent und eine Prämie von umgerechnet 900 Euro für die Mitarbeiter der ungarischen Güterbahn MAV Cargo, die im Januar an die Österreichische Bundesbahn verscherbelt wurde. Seit Dienstag verhandeln beide Seiten wieder, doch bleibt die Stimmung weiterhin aufgeheizt. Der ungarische Verkehrsminister Csaba Kakosy bezeichnete das Vorgehen der Gewerkschaftler als »politische Erpressung«, da deren Chef Gasko an »keiner Einigung interessiert sei« und darauf hinarbeite, auch am 9. März den Zugverkehr zu bestreiken. An diesem Tag findet in Ungarn ein Referendum über Teile der umstrittenen ungarischen Gesundheitsreform statt.

Solch ein Szenario möchte Ungarns neoliberale Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Liberalen nach Kräften vermeiden, standen doch die Eisenbahner in der Vergangenheit immer wieder an der Spitze einiger kurzfristiger Streikwellen, die auch etliche anderen Berufsgruppen zur Arbeitsniederlegung motivierten. Ende November schlossen sich einem Warnstreik von etwa 10000 Bahnbeschäftigten auch Angestellte von privaten Eisenbahngesellschaften und Buslinien an. An dem Ausstand im Verkehrswesen beteiligten sich spontan die unterbezahlten Lehrer, Ärzte, Polizisten sowie die Belegschaften etlicher Elektrizitätswerke.

Ein ähnliches Bild ergab sich am 17. Dezember, als während eines Generalstreiks mehrere Gewerkschaften die Hälfte des Eisenbahnverkehrs lahmlegten, um gegen Trassenstillegungen und die Gesundheitsreform zu protestieren. Die ungarische Regierung um Premier Ferenc Gyurcsany befürchtet offensichtlich, daß am Tag des Referendum dieses Protestpotential seine volle Dynamik entfaltet.

Um solche Streik- und Protestwellen künftig zu erschweren, plane die Gyur-csany-Administration eine »Anpassung des Streikrechts«, wie die Tageszeitung Nepszava am Mittwoch berichtete. Die Sozialdemokraten tragen sich mit dem Gedanken, die Gewerkschaften zu Aufrechterhaltung von »minimalen Dienstleistungen« auch während eines Ausstands zu nötigen. Zudem solle ein »Mechanismus« eingeführt werden, der einen Kompromiß zwischen den Tarifparteien »garantieren« werde. Daneben sollen zukünftig einzelne Gewerkschaften nicht mit einem Unternehmer in Lohnverhandlungen treten dürfen, falls noch andere Arbeiterorganisationen in dem Betrieb dies nicht wünschen – falls implementiert, würde diese Regelung sicherlich zu einer Blüte »gelber«, also unternehmerfreundlicher Gewerkschaften führen. Schließlich dürften künftig alle Gewerkschaften selbst jeden einzelnen Warnstreik erst nach einer längeren Vorwarnzeit durchführen.

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