„Junge Welt“, 01.02.2008
Estland: Prozeß gegen Antifaschisten geht weiter. Sahra Wagenknecht: »Klarer politischer Charakter«
Der Prozeß gegen vier als »Rädelsführer« bezeichnete Angeklagte in der estnischen Hauptstadt Tallinn geht weiter. Ursprünglich sollte er am gestrigen Donnerstag beendet werden, doch zeichnet sich ab, daß er sich bis in den April oder Mai hineinziehen könnte. Zeugen wurden bisher nicht vernommen, und auch sonst kennzeichnen »merkwürdige Praktiken« die seit dem 15. Januar laufende Verhandlung – so Sahra Wagenknecht gegenüber jW.
Die EU-Abgeordnete der Linkspartei hatte am Mittwoch den Prozeß in Tallinn auch deswegen besucht, damit dieser nicht einfach »unbeobachtet durchgezogen werden« kann. Es sei ein Skandal, daß sich die Europäische Union auf die Position zurückzieht, es handele sich um innere Angelegenheiten Estlands. Vielmehr müßte die EU von ihrem Mitgliedsland dringend »die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards« einfordern.
Die vier angeklagten Antifaschisten hatten sich zusammen mit Tausenden Demonstranten im April 2007 gegen die Beseitigung eines sowjetischen Ehrenmals in Tallinn zur Wehr gesetzt. Ihnen wird vorgeworfen, die »Nachtwache« zum Schutz des Ehrenmals organisiert und die »Ausschreitungen im voraus geplant zu haben«. Diese hatten ganz Tallinn ergriffen, nachdem Polizeikräfte eine friedliche Blockade rund um den »Bronze-Soldaten« brutal überrannten. Im Laufe der Auseinandersetzungen wurden Hunderte Menschen festgenommen, Dutzende wurden von den Sicherheitsorganen verletzt, ein junger russischer Staatsangehöriger kam auf ungeklärte Weise ums Leben.
Dmitri Linter, Mark Siryk, Maxim Reva und Dmitri Klensky, die russischstämmigen Angeklagten von Tallinn, wurden von der estnischen Justiz offensichtlich mit Bedacht ausgewählt. An ihnen, so Sahra Wagenknecht nach Gesprächen mit den Betroffenen und ihren Anwälten, solle »ein Exempel statuiert werden«, um so Kritik an einer »hochproblematische Politik« zu verhindern. Diese setze auf die »Spaltung der Gesellschaft« und tue alles dafür, »die russischsprachige Bevölkerung, die immerhin fast ein Drittel der Bevölkerung in Estland ausmacht, zu entrechten und zu marginalisieren«. Folglich trage der gegen die vier geführte Prozeß einen »klar politischen Charakter«. Dazu paßt auch, so die Europaparlamentarierin, daß sich der estnische Ministerpräsident für die Höchststrafe von fünf Jahren ausgesprochen hat.
Insgesamt ist der Prozeß nur die berühmte Spitze des Eisbergs einer umfassenden Repressions- und Einschüchterungskampagne. Allein im Großraum Tallinn wurden Polizeiangaben zufolge gegen 426 Personen in Verbindung mit den April-Ereignissen Ermittlungen aufgenommen, wobei bis Mitte Januar 156 Fälle an die Staatsanwaltschaft zur eventuellen Aufnahme von Strafverfahren weitergeleitet wurden.
Bisher wurden Strafen gegen Demonstranten, die nicht zu den »Organisatoren« zählen, zur Bewährung ausgesetzt. Und am Dienstag erhielt Dmitri Galuschkewitsch eine Geldstrafe von umgerechnet 1120 Euro aufgebrummt. Der 20jährige Hacker hatte während der Auseinandersetzungen die Homepage der regierenden estnischen »Reformpartei« lahmgelegt – als »Akt des Protestes« gegen die Schleifung des sowjetischen Ehrenmals.