„Junge Welt“, 24.01.2007
Industriebrachen im Rostgürtel, Gangs statt Arbeitsplätze, Sanktionen gegen Bettler: Folgen der Immobilienkrise zerstören die Sozialstruktur in den USA
US-amerikanische Städte gehen in jüngster Zeit entschieden gegen Symptome der um sich greifenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten vor. Wie die Los Angeles Times (LAT) am Sonntag berichtete, häufen sich die drastischen Verordnungen gegen alle möglichen Arten von Straßenverkauf, die viele Stadtverwaltungen erlassen. Von »Boston bis Honolulu« hätten die Kommunen ihre Verordnungen gegen Betteln verschärft und deren »entschlossenen Durchsetzung« durch die Sicherheitskräfte forciert. Als besonders rabiat tat sich die Stadtverwaltung von Tacoma im Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA hervor. Deren neuesten Vorschriften drohen für das Betteln in bestimmten öffentlichen Bereichen Gefängnisstrafen von bis zu 90 Tagen an.
Betroffen sind oftmals Menschen, die sich mit Straßenverkäufen oder dem Verkauf von Obdachlosenzeitungen über Wasser zu halten versuchen. So berichtete Timothy Harris von der progressiven Obdachlosenzeitung Real Change gegenüber der LAT, wie Polizisten in Tacoma und Auburn die Verkäufer dieser in Seattle ansässigen Zeitschrift aufforderten, deren Verkauf einzustellen. Tulin Ozdeger von der Betroffenenorganisation National Law Center on Homelessness & Poverty in Washington sieht generell Bestrebungen, die Obdachlosigkeit zu kriminalisieren. Die Antibettlergesetze seien Teil dieser Tendenz, so Ozdeger gegenüber der LAT.
Tatsächlich ist die Rezession, vor der sich nun auch die US-Oligarchie fürchtet, für viele Bürger längst Realität. Die meisten Mitglieder der erodierenden Mittelschicht haben in den zurückliegenden Dekaden Einkommensverluste hinnehmen müssen und ihren Lebensstandard nur durch Verschuldung, Mehrarbeit und die Aufnahme von Hypotheken auf ihre Immobilien halten können. Inzwischen verdient ein dreißigjährigen Arbeiter inflationsbereinigt zwölf Prozent weniger als vor 30 Jahren. Dabei arbeitet ein US-Lohnabhängiger im Schnitt jährlich 350 Stunden länger als ein Europäer. Wie sehr Arbeiter und Angestellte inzwischen finanziell unter Druck stehen, wird allein aus der Tatsache ersichtlich, das 27 Millionen Haushalte sich im letzten Winter Geld leihen mußten, um ihre Heizkosten begleichen zu können.
Die Middle Class ist nach Dekaden fallender Löhne, absurder Steuergeschenke für die Superreichen und steigender Kosten im Bildungs- und Gesundheitswesen faktisch am Ende. Eine tiefe soziale Kluft kennzeichnet das »moderne Amerika«: Das reichste Prozent der US-Bevölkerung besitzt 34,3 Prozent des Vermögens. Die obersten zehn Prozent halten davon sogar 71 Prozent in ihren Händen, während auf die untersten 40 Prozent gerade einmal 0,2 Prozent des Reichtums entfallen. Ähnlich sieht es bei den Einkommen aus: Die obersten zehn Prozent der USA erhalten 42,2 Prozent der gesamten Lohnsumme, auf die ärmsten 40 Prozent entfallen nur 10,1 Prozent. Besonders dramatisch gestaltet sich diese soziale Spaltung, wenn das gerade rasant schrumpfende Immobilienvermögen nicht berücksichtigt wird. Dann besitzen die reichsten zehn Prozent der US-Bürger 80 Prozent des Vermögens, die unteren 80 nur noch 7,5 Prozent.
Sollte es in den USA keinen fundamentalen Politikwechsel geben, dürfte die Immobilienkrise den sozialen Abstieg der US-Mittelklasse beschleunigen und eine stark polarisierte SoÂzialstruktur verfestigen. Im Durchschnitt sollen Medienberichten zufolge im Verlauf der Krise die Hauspreise um etwa 25 Prozent fallen. Fast zwei Millionen US-Haushalte sollen in den kommenden zwei Jahren von Zwangsvollstreckungen betroffen sein. Millionen drohten schwerste finanzielle Belastungen.
Schon jetzt sind die Verwüstungen, die der Kollaps des Immobilienmarktes hinterlassen hat, in vielen Städten offensichtlich. In Detroit erinnern etliche Stadtteile an Bürgerkriegsgebiete. Bis zu 60 Prozent der Häuser können in einigen Blocks von Zwangsvollstreckungen betroffen sein, oftmals auch deswegen, weil deren Bewohner die Grundstückssteuern nicht zahlen können, auf die viele Städte zur Finanzierung der Infrastruktur angewiesen sind. Die leeren Häuser werden von verarmten Menschen »ausgeweidet«, alle nur verwertbaren Materialien – wie Metallteile oder Kabel – werden herausgerissen und weiterverkauft. Die Infrastruktur verfällt.
Auch mehren sich die Zeichen soÂzialer Desintegration. Vor allem die Verbrechensrate schießt wieder in die Höhe. In Cleveland/Ohio – ebenfalls stark von der Immobilienkrise betroffen – ist die Mordrate inzwischen auf dem höchsten Stand seit 18 Jahren. Inzwischen sind an die 7000 Häuser in der eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt zwangsversteigert worden, wobei die eigentliche Welle an Vollstreckungen erst im Verlauf dieses Jahres zu erwarten ist. Denn dann werden die Zinsen der variablen Subprime-Hypotheken für Hunderttausende klammer Schuldner angehoben.
Wie das Endstadium einer solchen Krise aussieht, schilderte die Washington Times in einem Bericht aus dem Rust Belt, dem Rostgürtel der USA, der sich von den Großen Seen mit Chicago und Detroit über Boston und New York bis nach Washington zieht. In dieser einstmals industriell geprägten Region ist der »Strukturwandel« gescheitert, der nach der Verlagerung der Fertigung in Billiglohnländer eigentlich einsetzen sollte. Neben verrosteten Industrieruinen werden nun Drogen gehandelt und Gangkriege ausgefochten. »Die Banden füllen die Arbeitsplatzlücke im Rostgürtel«, die nach dem Auszug der Stahlindustrie entstand, so die Washington Times über die soziale Zerrütung in den ehemaligen Industriestädten, die in den letzten Jahren bis zur die Hälfte ihrer Einwohnerschaft verloren.