„Junge Welt“, 19.01.2008
In Estland vor Gericht: Vier Demonstranten, die sich der Schleifung eines antifaschistischen Denkmals widersetzten, während Regierung SS-Veteranen hofiert
Seit dem 15. Januar stehen vier Antifaschisten in der estnischen Hauptstadt Tallinn vor Gericht, die sich im April 2007 gegen die Zerstörung eines sowjetischen Ehrenmals zu Wehr setzten. Die Angeklagten wurden von der estnischen Justiz offensichtlich mit Bedacht ausgewählt. Obwohl auch viele Esten gegen den Abriß des »Bronze-Soldaten« im Zentrum Tallinns protestierten, finden sich nur ethnische Russen – mehr als ein Viertel der Einwohner des EU- und NATO-Mitgliedslandes – auf der Anklagebank. Offensichtlich ist Estland bemüht, der Auseinandersetzung einen rein nationalistischen Anstrich zu verpassen und antifaschistisches Engagement de facto zu einem informellen Straftatbestand zu erheben.
Den vier Angeklagten wird vorgeworfen, die »Ausschreitungen im voraus geplant zu haben«, die ganz Tallinn ergriffen, nachdem Polizeikräfte eine friedliche Blockade rund um den »Bronze-Soldaten« brutal überrannten und mehrere Menschen verletzten. Dabei übersieht die nun eifrig zur Tat schreitende estnische Staatsanwaltschaft nur zu gerne, das eine deutliche Mehrheit der estnischen Bevölkerung bis zum Schluß vehement gegen den Denkmalsabriß war. Im März 2007 lehnten 48 Prozent der Bürger Estlands einen Abriß ab, 38 Prozent befürworteten diesen.
An den vier Aktivisten – die sich unter anderem an einer »Nachtwache« zum Schutz des Ehrenmals beteiligten – soll offensichtlich ein Exempel statuiert werden. Sollten sie schuldig gesprochen werden, drohen ihnen Haftstrafen bis zu fünf Jahren. Laut Staatsanwältin Laura Vaik hätten die Beschuldigten bereits im Herbst 2006 mit den Vorbereitungen zur Organisierung der Ausschreitungen vom 26. und 28. April 2007 begonnen. Konkret wird den Angeklagten vorgeworfen, eine Menschenkette rund um das Denkmal organisiert zu haben. Dies sei laut Vaik von einem Beschuldigten sogar schon am 22. September geplant worden, einem Datum, das auch als »Tag der Befreiung vom Faschismus« begangen wird, so die Staatsanwältin, die hierin offenbar ein besonders schwerwiegendes Vergehen sieht.
Die Angeklagten werden für die Sachschäden in Höhe von umgerechnet 1,6 Millionen Euro verantwortlich gemacht, die während der zweitägigen Unruhen entstanden. Bei den Zusammenstößen mit der Polizei kam ein Demonstrant ums Leben, weit über 100 Menschen wurden verletzt, an die 1000 Protestierer fanden sich in Polizeigewahrsam wieder. Das brutale Vorgehen der estnischen Sicherheitskräfte, das Amnesty International als »repressiv« bezeichnete, wurde hingegen von keiner estnischen Behörde untersucht.
Der von der estnischen Regierung praktizierte Geschichtsrevisionismus belastet die russisch-estnischen Beziehungen weiterhin schwer. Russische Politiker reagieren immer wieder empört, wenn in Estland Denkmäler zu Ehren der Waffen-SS errichtet oder SS-Veteranenverbände von Regierungsmitgliedern öffentlich geehrt werden. Die in estnischen SS-Verbänden organisierten Massenmörder haben im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zwischen 120000 und 140000 Menschen abgeschlachtet – Juden, Kommunisten und Angehörige ethnischer Minderheiten. Estland wurde schon am 15. Dezember 1941 für »judenfrei« erklärt.
Alle vier Angeklagten – Dimitri Linter, Maxim Rewa, Mark Sirjik und Dimitri Klenski – plädierten auf nicht schuldig. Zudem beschuldigten sie die Polizeikräfte, die im Frühjahr 2007 festgenommenen Demonstranten massiv mißhandelt zu haben. Überdies seien ihnen von der Verfassung garantierte Rechte – wie ein Rechtsbeistand – zeitweilig vorenthalten worden, so die Angeklagten.