„Junge Welt“, 09.01.2008
Rußland kann auch 2008 mit kräftigem Wachstum rechnen. Inflation und Peak Oil sorgen allerdings für leichte Bewölkung am Konjunkturhimmel
Angetrieben durch die jüngsten Preissteigerungen bei Energieträgern, scheint ein Ende des russischen »Wirtschaftswunders« nicht in Sicht. In den ersten neun Monaten 2007 wuchs die Wirtschaft um satte 7,8 Prozent. Damit setzt sich der stabile Aufwärtstrend fort, der dem Land seit 2003 durchgehend Wachstumsraten von über sechs Prozent bescherte. Auch im Wahljahr 2008 bleibt das Land auf Wachstumskurs. Um bis zu 6,7 Prozent soll das Bruttosozialprodukt (BSP) nach den eher zurückhaltenen Prognosen der Regierung wachsen.
Reich dank Gas und Öl
Treibende Kraft hinter dem Boom bleibt der Export von Rohstoffen, insbesondere von Energieträgern. Deren explodierende Preise bescherten dem Land bereits im ersten Halbjahr 2007 einen Handelsüberschuß von 72,1 Milliarden US-Doller. Allein aus dem Ölexport nimmt die Russische Föderation etwa 600 Millionen US-Dollar täglich ein. Dennoch ging der Überschuß laut Statistikamt Rosstat um 16 Prozent zurück. Das liegt u. a. am Überschreiten des Förderhöhepunktes vieler Ölvorkommen – Peak Oil genannt. So konnten neu erschlossene Quellen lediglich die Kapazitäten der gerade zur Neige gehenden Vorkommen ersetzen. Trotz erheblicher Anstrengungen stieg die russische Ölproduktion nur um 2,4 Prozent; die von Erdgas nahm sogar um 1,3 Prozent ab.
Auch die rapide wachsenden Importe verringerten den Handelsbilanzüberschuß. In den ersten sieben Monaten 2007 legten die Einfuhren um 37,5 Prozent auf 114,9 Milliarden US-Dollar zu. Der von Unmengen Petrodollars getränkte russische Binnenmarkt saugt inzwischen so ziemlich jede Warengruppe auf: vom Zucker über Fleischprodukte und Computer bis zu den obligatorischen Luxuslimousinen.
Tatsächlich stieg die Kaufkraft rasant. 2007 betrug der russische Durchschnittslohn 13540 Rubel (etwa 550 US-Dollar), 2006 waren es 10636, ein Jahr davor sogar nur 8555 Rubel. Der Einzelhandel wies 2007 einen Zuwachs von 14,8 Prozent aus. Dem Konsumrausch hinkt die industrielle Entwicklung nach. So erhöhte sich die Industrieproduktion 2007 um 4,7 Prozent. Auch in den beiden vorangehenden Jahren hatte sie jeweils nur um etwa vier Prozent zugelegt. Einzig der militärisch-industrielle Komplex kann auf den Weltmärkten Erfolge feiern.
Die Mehrheit der russischen Bevölkerung hat wenig vom Boom. So feierte die Wirtschaftszeitung Kommersant eine Verbreiterung der »russischen Mittelklasse« auf 20 Prozent der Bevölkerung. Dem Blatt zufolge soll sich auch die »Lage der nicht so Wohlhabenden verbessert« haben. Die Kluft in der Einkommens- und Vermögensverteilung konnte allerdings auch die Zeitung der russischen Wirtschaft nicht ignorieren: »Vor kurzem« noch hätten die reichsten zehn Prozent der russischen Bevölkerung 13mal mehr »verdient« als das ärmste Zehntel. Nun sei es bereits 15,3 mal mehr. Die Mehrausgaben des Staates im Sozialsektor reichten gerade aus »die schlimmsten Löcher zu flicken«, so das Blatt.
Für die verarmte breite Schicht der russischen Bevölkerung stellt die wachsende Inflation eine besonders schwere Belastung dar. Rußland Zentralbank wollte 2007 die Teuerung bei acht Prozent halten. Doch daraus wurde nichts: Gegen Jahresende lag sie bereits bei elf Prozent. Damit zehrt die Inflation einen Gutteil der Lohnzuwächse auf.
Rang fünf im Visier
Doch Moskau hat große Pläne: Im Februar wird die »Konzeption der sozialökonomischen Entwicklung Rußlands« in Kraft treten. Bis 2020 soll das Land zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen. Dazu allerdings müßte sich die Wirtschaftsleistung »von den heutigen 30 Billionen Rubel (1,2 Billionen Dollar) auf das Fünffache (über sechs Billionen US-Dollar) – erhöhen«, wie die Nachrichtenagentur RIA-Nowosti schrieb. Eine Reihe »staatlicher Entwicklungsinstitutionen«, eine Entwicklungsbank, eine zentrale Venture-Gesellschaft und Investmentfonds sollen das nötige Kapital für die russische Aufholjagd zu Verfügung stellen. »In den kapitalintensiven Sektoren Luft- und Raumfahrt, Schiffbau, Atomenergie werden große zentralisierte staatliche Korporationen gegründet«, so RIA-Nowosti zu diesem staatskapitalistischen Entwicklungsansatz. »Nationalen Champions« aus dem Transport- und Energiesaktor (Gasprom, Rosneft, Transneft und die Russischen Eisenbahnen) sollen sich dazugesellen.