„Junge Welt“, 28.12.2007
Schengen-Raum ausgeweitet. Verlierer in Polen, Ukraine und Belarus
Nach dem Beitritt Polens und sieben weiterer osteuropäischer Länder zum Schengen-Raum kommen nun auch östlich von Oder und Neiße die »europäischen Werte« verstärkt zur Geltung. Noch bevor die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Polen am 21. Dezember offiziell eingestellt wurden, ist in der ostpolnischen Stadt Przemysl der erste Abschiebeknast Polens in Betrieb genommen worden. Wie das unabhängige Nachrichtenportal infoseite-polen berichtete, wird dieses mit Stacheldraht umzäunte und mit Videokameras überwachte Sammellager zu 85 Prozent aus EU-Mitteln finanziert. In dem »Familiengefängnis« würden auch Kinder gefangengehalten, ohne die Möglichkeit eines Schulbesuchs zu erhalten.
Zukunftsangst
Vor dem Beitritt zum Schengen-Raum gab es in Polen ausschließlich offene Flüchtlingslager. Die größte Gruppe im neuen EU-Sammellager bilden Tschetschenen; daneben werden dort Menschen aus der Ukraine, Georgien, China und Vietnam festgehalten. Nach Angaben der Tageszeitung Rzeczpospolita finden sich im Abschiebeknast von Przemysl nicht nur Flüchtlinge, die sich kurzzeitig in Polen aufhielten. Das Blatt berichtete von dem Schicksal eines Vietnamesen, der seit elf Jahren in Polen lebt, mit einer polnischen Staatsbürgerin verheiratet ist und mit ihr eine dreijährige Tochter hat. Nachdem er von einer Polizeistreife in Krakow ohne Papiere aufgegriffen wurde, sitzt er im Flüchtlingsgefängnis von Przemysl.
Der unterentwickelte Osten Polens wie auch dessen östliche Nachbarländer zählen zu den großen Verlierern der Ausweitung des Schengen-Raums. Vor dem 21. Dezember lebte die strukturschwache Region beiderseits der polnisch-ukrainischen Grenze größtenteils vom Handel und Schmuggel. Ukrainische Kleinsthändler und Schmuggler brachten täglich ihre Zigarettenstangen und Wodkaflaschen, mit denen sie einen erheblichen Teil des regionalen Bedarfs deckten, auf die umliegenden Märkte. Nun müssen sie ein Visum beantragen und hierfür eine »Gebühr« von umgerechnet 35 Euro entrichten – für viele der ukrainischen Rentner, die mit diesem Handel und Schmuggel ihren Lebensunterhalt sicherten, bedeutet dies den Verlust einer wichtigen Einnahmequelle. Viele Ukrainer hätten vor einem zweiten »Eisernen Vorhang« Angst, daß die Grenze nun »so dicht werden könnte wie zur Zeit der Sowjetunion«, berichtete die Rzeczpospolita.
Doch auch die polnische Grenzregion verliert massiv an Kundschaft. Die Supermärkte in der polnisch-belorussischen Grenzregion Podlasie schoben kurz vor dem 21. Dezember Sonderschichten, um den Ansturm belorussischer Kunden zu bewältigen, die sich ein letztes Mal mit günstigen polnischen Lebensmitteln versorgen wollten.
Hohe Visagebühren
Mußte bislang ein Bürger der Republik Belarus nur sechs US-Dollar für ein Visum nach Polen berappen, werden nun 60 Euro fällig. Das wäre »zuviel, um einfach nur in den Supermarkt zu fahren«, erklärte ein Einkaufstourist gegenüber der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Das oftmals als »Armenhaus« bezeichnete Grenzgebiet Polens zu Belarus wird erhebliche Einnahmen verlieren: Allein im November dieses Jahres gingen dort 180000 Belorussen auf Einkaufstour.
In Westpolen wird man sich hingegen bald an vergangene Zeiten erinnert sehen, wenn deutsche Polizeikräfte in den ehemals deutschen Ostgebieten mit Blaulicht auf Verbrecherjagd gehen werden.
Bei den Verhandlungen im Vorfeld des Schengen-Beitritts Polens mußte Warschau dem deutschen Drang gen Osten nachgeben und zulassen, daß deutsche Polizeistreifen im Einsatz unbegrenzt weit auf polnisches Territorium vordringen dürfen. Die polnische Regierung wollte ursprünglich eine zeitliche und geographische Beschränkung deutscher Verfolgungsrennen erreichen, da die »lokale Bevölkerung, insbesondere in Westpolen, sehr negativ reagieren wird, wenn auf ihren Straßen deutsche Polizeifahrzeuge rasen werden«, berichtete der Radiosender RMF FM.