„Junge Welt“, 19.12.2007
Osteuropas ist von den rapide steigenden Nahrungsmittelpreisen aufgrund des niedrigen Lohnniveaus besonders stark betroffen
Die Inflation in der östlichen Peripherie der Europäischen Union gewinnt an Fahrt. Als das polnische Finanzministerium einen Anstieg der jährlichen Teuerungsrate von drei auf 3,5 Prozent im November prognostizierte, wurde diese Einschätzung von einem Großteil der Analysten Polens als zu skeptisch beurteilt. Tatsächlich überstieg die Inflation im November mit einem Anstieg von 3,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum sogar die Prognose des Finanzministeriums. Der allgemeine Preisauftrieb an der Wisla soll neuesten Einschätzungen zufolge weiter an Dynamik gewinnen: bis Jahresende auf vier Prozent; 2008 könnten fünf bis sechs Prozent erreicht werden.
2008 wird’s noch teurer
Dabei stellt die polnische Inflation noch das gemäßigte Schlußlicht einer rasanten Entwicklung dar. Insgesamt ist die einkommensschwache Bevölkerung der östlichen EU-Peripherie einer regelrechten Preisexplosion ausgesetzt. In der Tschechischen Republik betrug die Teuerungsrate im November bereits fünf Prozent, in Ungarn liegt sie bei 6,9 Prozent. Selbst das der Eurozone beigetretene Slowenien verzeichnete im vergangenen Monat einen Anstieg auf 5,8 Prozent. Einen dramatischen Preisauftrieb vermeldeten hingegen Bulgarien mit 13 Prozent und Lettland mit 13,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Auch im restlichen Baltikum und in Rumanien galoppiert die Inflation bei zehn Prozent.
Zu einem Großteil wird diese Welle von der seit Monaten anhaltenden Preisexplosion bei Lebensmitteln getragen. EU-Neumitglieder wie Bulgarien mußten eine Verteuerung der Grundnahrungsmittel von nahezu 25 Prozent binnen eines Jahres hinnehmen; ähnlich stark stiegen die Preise in Rumänien. In Ungarn, dessen Bevölkerung gerade eine neoliberale Roßkur zwecks Haushaltssanierung verabreicht bekommt, waren es 22,5 Prozent. Lettland meldete allein im November einen Anstieg der Brotpreise binnen eines Monats um 16 Prozent. Selbst in der als stabil geltenden Tschechischen Republik kletterten die Lebensmittelpreise um 13,7, in Polen um sieben Prozent.
Diese globale Preisexplosion, die auch in Westeuropa spürbar ist, trifft in Osteuropa Volkswirtschaften mit einem niedrigen Lohnniveau. Der Analyst der Erste Bank, Juraj KoÂtian, erläuterte diesen in die Statistiken einfließenden Effekt gegenüber der Wiener Zeitung: »Die Nahrungsmittel- und Energiepreise haben einen größeren Anteil an dem Warenkorb, mit dem die Inflation berechnet wird, weil sich die Menschen dort keine Luxuswaren leisten können.« Zudem kommen landwirtschaftliche Produktionsbeschränkungen der EU als Preistreiber in Betracht, da insbesondere im Fall Polens die rigiden Milchabgabequoten zu einer extremen Teuerung aller Milchprodukte geführt haben. Schließlich führt der freie EU-Binnenmarkt dazu, daß die erhöhte Nachfrage im westeuropäischen Zentrum der Wirtschaftsunion unmittelbar auf die Preise in der Peripherie durchschlägt – durch höhere Lebensmittelexporte gen Westen.
Ein Ende der inflationären Dynamik bei Lebensmitteln ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel werden laut einem Bericht der Financial Times weiter steigen. Die Preise für im März 2008 zu liefernden Weizen und Reis seien an der Chigagoer Börse auf bislang ungekannte Höhe geschossen. Sojabohnen seien seit 34 Jahren nicht mehr so teuer gewesen, der Mais befinde sich auf einen Elf-Jahres-Hoch, so das Wirtschaftsblatt. In den kommenden Monaten würde dies zu einer erneuten »Welle steigender Preise« führen. Bereits die sommerlichen Teuerungen hatten eine Lebensmittelinflation von 4,3 Prozent in der Eurozone und 4,8 Prozent in den USA zur Folge. Doch dies scheint nur der Anfang einer längerfristigen Entwicklung zu sein: »Wir sahen bereits 2007 Teuerungen bei Lebensmittelpreisen, die so schnell voranschrittten wie seit den frühen 80ern nicht mehr. Aber der Hauptstoß dieser Preiserhöhungen wird ernsthaft 2008 einsetzen«, erklärte der Analyst Bill Lapp von der US-Wirtschaftsberatung Advanced Economic Solutions gegenüber der Financial Times.
Statistik geschönt
Je niedriger das Einkommen, desto schwerwiegender die Auswirkungen der Inflation. Das gilt auch für die »neuen Armen« Deutschlands, deren Anzahl sich im Gefolge von Agenda 2010 und Hartz IV vervielfachte. In den verordneten adventlichen Konsumrausch der angeblich von einem Wirtschaftswunder heimgesuchten BRD platzte die Nachricht von einer auf 3,3 Prozent gestiegenen Inflation. Allerdings geben die hiesigen Statistiken die wirkliche Teuerung kaum adäquat wieder, da die deutschen Statistiker in einer Welt leben, in der man nur etwa zehn Prozent seines Einkommens für Lebensmittel ausgibt. Gegenüber der Zeit stellte Inflationsexperte Wolfgang Brachinger klar, daß aufgrund ihres niedrigen Einkommens Rentner innerhalb des letzten Jahres im Schnitt eine Inflation von sieben Prozent verkraften mußten. Hartz-IV-Empfänger sahen sich sogar mit einem reellen Kaufkraftverlust von 7,5 Prozent konfrontiert. Beide Gruppen mußten einen Großteil ihrer niedrigen Einkünfte gerade für die Artikel ausgeben, die sich besonders stark verteuerten: Lebensmittel und Energie. Zumindest hier ist die Angleichung ost- und westeuropäischer Lebensstandards weitgehend Realität geworden.