„Junge Welt“, 21.07.2007
Mit einem Brachialprogramm will die tschechische Regierung die Reste des Sozialstaates schleifen. Bis 2010 will man »fit für den Euro« sein
Eigentlich müßte in Tschechien Aufbruchstimmung herrschen. Das 10,3 Millionen Einwohner zählende Land erreichte im ersten Quartal 2007 ein Wirtschaftswachstum von 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Bruttosozialprodukt (BSP) von umgerechnet 105 Milliarden Euro im Jahr 2006 bedeutete einen statistischen BSP-Anteil je Einwohner von rund 10000 Euro. Damit war Tschechien zu einem der Musterländer unter den sogenannten Transformationsstaaten Osteuropas avanciert. Nur Slowenien liegt als einziges ehemals sozialistisches Land bei den ökonomischen Kerndaten knapp vor Tschechien. Inzwischen hat das Land auch einige südeuropäische Staaten überholt. Das BSP-pro-Kopf der Bevölkerung ist an der Moldau mit 79 Prozent des EU-Durchschnitts höher als in Portugal (75) und Malta (77). Zudem sank die Arbeitslosenquote im Juni auf 6,3 Prozent. Der monatliche Durchschnittslohn betrug im ersten Quartal 2007 umgerechnet 722 Euro und stieg somit im Jahresvergleich um 7,8 Prozent.
Dennoch will die derzeitige Regierung um Premier Mirek Topolanek ein rabiates Spar- und Umverteilungsprogramm durchboxen. Die von der Koalition aus Topolaneks konservativer ODS, den tschechischen Grünen und den Christdemokraten (KDU-CSL) verordneten »Reformen« sollen vordergründig Tschechien für den Euro fit machen. Schon 2010 will man in Prag der Eurozone beitreten. Um die Konvergenzkriterien des Euro-Stabilitätspaktes zu erfüllen, muß Tschechien – ähnlich wie Ungarn – sein derzeitiges Haushaltsdefizit von vier Prozent des BSP auf weniger als drei Prozent drücken.
Die tschechische Koalition steht unter enormen Druck aus Brüssel. Bei einer Tagung der EU-Finanzminister am 10. Juli wurde Prag zu einer »strengeren Haushaltspolitik« aufgefordert. Der für Währungsfragen zuständigen EU-Kommissar Joaquin Almunia erklärte, daß Tschechien sich zu wenig bemühe, die für die Euro-Einführung unabdingbaren Kriterien zu erfüllen.
Almunia muß entweder an Realitätsverlust leiden oder will einfach nur den Druck erhöhen, denn Topolaneks »Reformen« haben es wahrlich in sich: Die Haushaltssanierung sollen primär die Lohnabhängigen bezahlen, indem die Besteuerungsgrundlagen bei abhängig Beschäftigten verbreitert werden. Das bedeutet für den Fiskus üppige Mehreinnahmen und für die Arbeiter und Angestellten Tschechiens niedrigere Nettoeinkommen. Auch soll der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf Lebensmittel und Medikamente von vier auf neun Prozent steigen. Zudem plant die Regierung, den Inflationsausgleich für Sozialleistungen auszusetzen und verschiedene Zuschüsse für Kinder und Alleinerziehende gänzlich abzuschaffen. Das Rentenalter wird von 62 auf 65 Jahre angehoben, wobei nur der einen Anspruch auf die Rentenzahlungen hat, der mindestens 35 Jahre eingezahlt hat – jetzt sind es noch 25 Jahre. Generell will man an der Moldau mittelfristig das staatliche Rentensystem weitgehend abschaffen und privaten Versicherern ab 2010 öffnen. Schließlich werden auch in Tschechien die berüchtigten »Krankenhausgebühren« eingeführt, die unabhängig von Geldbeutel und Art der Erkrankung für alle Bürger fällig werden. Mittelkürzungen sind auch im Bildungsbereich vorgesehen.
Selbstverständlich dürfen sich die in Tschechien tätigen Unternehmen trotz aller Sparrhetorik auf Steuersenkungen freuen, die den internationalen Wettlauf um die niedrigsten Unternehmenssteuern weiter anheizen dürften. Nur noch 19 statt der bislang üblichen 24 Prozent sollen die Konzerne an der Moldau zahlen.
Den Widerstand gegen diesen Kahlschlag der Überreste des tschechischen Sozialsystems organisieren in erster Linie die tschechischen Gewerkschaften. Am 23. Juni gingen 30 000 Menschen in Prag auf die Straße. Zu der Demonstration hatten der mit 600000 Mitgliedern größte tschechische Gewerkschaftsbund CMKOS aufgerufen sowie die kleinere Gewerkschaftsvereinigung ASO, die 200000 Mitglieder zählt. Auf der Kundgebung drohten die Gewerkschafter, notfalls einen Generalstreik auszurufen, sollte die Regierung nicht »substantielle Änderungen« an ihrem Reformpaket vornehmen.
Doch inzwischen ist die gewerkschaftliche Einheit dahin, da die CMKOS am 10. Juli erklärte, daß derzeit ein Generalstreik nicht auf der Tagesordnung stehe. Laut CMKOS-Vorsitzenden Milan Stech wollen sich die Gewerkschafter erstmal als Lobbyisten im Parlament versuchen, um Änderungen durchzusetzen. Die ASO hält hingegen am landesweiteb Ausstand im August fest, wenn das Parlament über die Reformen abstimmen will. Der stellvertretende Vorsitzende der ASO, Jaromir Dusek, rief alle Gewerkschafter und »alle übrigen Bürger der Tschechischen Republik zur Vorbereitung und Durchführung eines Generalstreiks auf«.