„Junge Welt“, 02.06.2007
Warschau will neuen Abstimmungsmodus im EU-Ministerrat durchsetzen. Prodi warnt vor Europa der »zwei Geschwindigkeiten«
Die polnische Hauptstadt entwickelt sich in letzter Zeit zu einem beliebten Reiseziel europäischer Politprominenz. Am 30. Mai waren der italienische RegierungsÂchef Romano Prodi und der portugiesische Außenminister Luis Amado zu eintägigen Arbeitsbesuchen in Warschau, um mit ihren polnischen Amtskollegen über die Reanimierung der europäischen Verfassung zu diskutieren. Beide Politiker gaben sich hierbei alle Mühe, die polnischen Bedenken zu zerstreuen und Warschau zu einer kooperativeren Haltung in dieser vor allem von Berlin zur Priorität erhobenen Frage zu bewegen, wie die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita meldete.
All das gute Zureden und offene Drohen seitens Prodis und Amados scheinen aber wenig gebracht zu haben. Der italienische Premier warnte schon mehrmals, daß der allzu starke Widerstand »einiger Staaten« zu einem Europa der »zwei Geschwindigkeiten« führen könnte, doch ironischerweise plädierte Polens Regierungschef Jaroslaw Kaczynski bei einer abschließenden Pressekonferenz gerade für ein »langsameres Tempo« bei der Erarbeitung der neuen Verfassung, wie die polnische Nachrichtenagentur PAP berichtete. Die polnischen Vorbehalte erläuterte Außenministerin Anna Fotyga nach den Gesprächen mit ihrem portugiesischen Amtskollegen. Portugal wird Anfang Juli die EU-Ratspräsidentschaft von Deutschland übernehmen.
Laut Fotyga will Polen die Bereiche, bei denen Entscheidungen innerhalb der EU ohne Vetomöglichkeit der Mitgliedsstaaten fallen sollen, stark begrenzen. Überdies lehne Polen das derzeit geplante Abstimmungsverfahren für Mehrheitsentscheidungen innerhalb des Machtzentrums der EU, des »Rates der Europäischen Union« (Ministerrat), ab. Hier soll der besonders bevölkerungsreiche Länder begünstigende Abstimmungsmodus der »doppelten Mehrheit« aus 55 Prozent der Mitgliedsstaaten und 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU zu Anwendung gelangen – gegen den Willen Deutschlands gerichtete Entscheidungen wären im zukünftigen Ministerrat also kaum möglich.
Polens Mathematiker scheinen nun eine adäquate Antwort auf die teutonische »doppelte Mehrheit« gefunden zu haben. Bei der Berechnung des Stimmengewichts eines jeden Staates im EU-Ministerrat soll demnach die Quadratwurzel aus der Einwohnerzahl gezogen werden, was nach ersten Berechnungen dazu führen würde, daß die Bündnispartner Polen und Tschechien zusammen über ein knapp höheres Stimmengewicht verfügen würden als Deutschland. Für diesen Abstimmungsmodus sei Polen bereit – so Kaczynski wörtlich – »zu sterben«. Polen werde seine Position gegenüber der EU-Verfassung nicht abmildern und behandelt seinen Vorschlag mit »größtmöglichem Ernst«, so der Regierungschef.
Es verwundert kaum, daß Berlin sich weigert, bei dem am 21. und 22. Juni anstehenden EU-Gipfel über einen neuen Abstimmungsmodus auch nur zu diskutieren. Dafür haben sich im Vorfeld des Gipfels, bei dem Berlin den weiteren Fahrplan der Verfassungsprozesses festlegen will, weitere Polittouristen ersten Ranges in Warschau angemeldet. Laut einem Bericht der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza trifft am 14. Juni der frischgewählte französische Präsident Nicolas Sarkozy in Warschau ein, gefolgt vom spanischen Premier José Luis Rodriguez Zapatero, der am 15. Juni mit Polens Premier zusammenkommen soll. Laut der Wyborcza sind alle Hoffnungen der Kaczynski-Zwillinge, die beide insbesondere auf ein Bündnis mit Frankreich setzen, eher illusorisch, da Sarkozy bei einigen Gelegenheiten bereits betonte, die polnischen Vorschläge nicht zu unterstützen.