„Junge Welt“, 09.05.2007
Die Beziehungen zwischen Moskau und Tallinn bleiben schwer belastet
Die seit dem Abriß des sowjetischen Ehrenmahls in der estnischen Hauptstadt Tallinn vergifteten russisch-estnischen Beziehungen sind noch immer von einer Normalisierung weit entfernt. Anläßlich einer Gedenkveranstaltung für im Kampf gegen den deutschen Faschismus gefallene Diplomaten kritisierte der russische Außenminister erneut die estnische Regierung sowie die Haltung des Westens in dieser Streitfrage. »Die Versuche, sich gegenüber diesem Gedenken mißfällig zu verhalten, es zu verspotten und die Geschichte neu zu schreiben, entrüsten uns«, so Sergej Lawrow, der hinzufügte, daß leider einige westliche Organisationen, wie die NATO oder die EU, diesem Geschichtsrevisionismus Vorschub leisteten. Sowohl die NATO als auch die EU und die USA hatten Moskau mehrmals zur »Zurückhaltung« und zur »Einhaltung diplomatischer Konventionen« aufgefordert.
Mit Kritik an dem estnischen Geschichtsrevisionismus und dem brutalen Vorgehen gegen antifaschistische Demonstranten in Tallinn hielt sich die westliche »Wertegemeinschaft« hingegen auffällig zurück. Anders das in Los Angeles beheimatete, nach dem berühmten Nazijäger benannte Simon-Wiesenthal-Center: »Estlands Führung versteht kaum, wie schwer die Verbrechen des Nazismus sind«, hieß es in einer Erklärung der Menschenrechtsorganisation. Das Denkmal sei ein Symbol des Sieges über das faschistische Deutschland gewesen, und sein Abriß beleidige die Opfer des Faschismus.
Das Wiesenthal-Center erinnerte zudem daran, daß nach der Unabhängigkeit Estlands kein einziger Kollaboratuer der Nazis angeklagt wurde. In ähnlich scharfer Form ging der Russische Kongreß der Jüdischen Religiösen Organisationen (KEROOR) mit den estnischen Geschichtsrevisionisten ins Gericht. So gebe die estnische Regierung laut KEROOR Hunderttausende von Kronen für estnischen SS-Divisionen gewidmete Monumente aus, während in legalisierten Veteranenverbänden organisierte SS-Männer weiterhin Pensionen erhalten. »Die estnischen Autoritäten übersehen gerne die Tatsache, daß die estnischen SS-Legionäre bei Strafaktionen zwischen 120 000 und 140 000 Menschen vieler ethnischer Gruppen umgebracht haben.«
Inzwischen greifen die Auseinandersetzungen auch auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Rußland und Estland über. Nach einem entsprechenden Aufruf des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow wurde in vielen Regionen der Russischen Föderation ein Boykott estnischer Waren organisiert. Seit einigen Tagen stoppte zudem die russische Bahn jeglichen Öltransit durch Estland. Die seit Jahren belasteten Beziehungen zu Rußland kommen Estland inzwischen teuer zu stehen. Der Preis für russisches Erdgas stieg in Estland seit 2005 von 90 auf 260 US-Dollar je tausend Kubikmeter – so viel zahlt ungefähr auch das viel weiter entfernte Deutschland.
Nun scheint Tallinn Gegenmaßnahmen zu ergreifen und die zwischen Rußland und Deutschland geplante Ostseepipeline »Nord Stream« behindern zu wollen. Ein für den 8. Mai geplantes Treffen mit dem Aufsichtsratsmitglied von Nord Stream, Altbundeskanzler Gerhard Schröder, sagte der estnische Regierungschef Andrus Ansip kurzfristig ab. Bei diesen Konsultationen sollte die Verlegung der Gaspipeline-Route in den estnischen Gewässern diskutiert werden, da dort der Meeresgrund ebener und tiefer ist. Vor einigen Tagen lehnte Estland einen russischen Antrag auf entsprechende Untersuchungen des Meeresbodens in seinen Territorialgewässern unter einer fadenscheinigen Begründung ab.