„Junge Welt“ vom 04.10.06
Auseinandersetzungen um die geopolitische Orientierung der Ukraine spitzen sich zu
Der Haussegen in der ukrainischen Koalition hängt schief. In der Anfang August gebildeten Regierung, in der mit Ausnahme des »Wahlblocks Julia Timoschenko« alle politischen Partien des Landes vertreten sind, gibt es seit einem Staatsbesuch ihres Premiers Viktor Janukowitsch Mitte September in Brüssel offenen Streit um die NATO. Der Ministerpräsident hatte in der belgischen Hauptstadt einen Beitritt seines Landes zum westlichen Militärbündnis ausgeschlossen, da ein solcher Schritt »in der ukrainischen Bevölkerung nur bei einer Minderheit Unterstützung« finde. Seine Äußerung rief harsche Kritik bei Teilen der ukrainischen Koalition hervor. Diese ist äußerst heterogen zusammengesetzt, reicht von den Kommunisten und Sozialisten über die vom Premier geleitete prorussische »Partei der Regionen« bis zu den westlich orientierten, ehemals »orangen Revolutionären« von der Präsidentenpartei »Unsere Ukraine«.
Nun liegt seit einer Verfassungsreform Anfang 2006 die außenpolitische Richtlinienkompetenz eindeutig bei Präsident Juschtschenko. Zugleich besitzt er seitdem nicht mehr das Recht, den Premierminister abzusetzen. Also überließ es Juschtschenko seinen Parteigängern in der Koalition, die Äußerungen Janukowitschs öffentlich zu kritisieren. Außenminister Borys Tarasjuk und Verteidigungsmnister Anatoli Hrjtsenko erklärten, daß der Ministerpräsident in Brüssel nur seine »persönliche Meinung« geäußert habe und daß diese nicht mit den anderen Regierungsmitgliedern abgesprochen gewesen sei. Juschtschenko lud Janukowitsch vor und erklärte im Anschluß an ein vierstündiges Gespräch, daß der Premier gegen Verfassung, Koalitionsvereinbarung und die »nationalen Interessen« der Ukraine verstoßen habe. Folglich habe er gegenüber dem Premier eine »ernste Verwarnung« ausgesprochen, so der Präsident.
Seine Drohgebärden dürften allerdings nicht mehr als hohle Rhetorik sein, da dem Präsidentenlager jegliche Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Janukowitsch fehlen und sich die prowestlichen Kräfte parlamentarisch in der Minderheit befinden. Zudem konterte Janukowitsch die Präsidentenattacke, indem er von den westlich orientierten Ministern die Einhaltung der Kabinettsdisziplin einforderte.
Eine zusätzliche Eskalation erfuhr der innerukrainische Kampf um die geopolitische Ausrichtung des Landes am Donnerstag, als Janukowitch die Entlassung von fünf mit dem Präsidenten verbündeten Regionalgouverneuren forderte, die er der »Behinderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung« ihrer Regionen beschuldigte. Laut Verfassung hat nur der Präsident das Recht, die Regionalgouverneure zu ernennen oder zu entlassen. So heißt es in einer umgehend veröffentlichten Stellungnahme der Präsidentenpartei »Unsere Ukraine«, daß dies ein weiterer Versuch Janukowitschs sei, die Befugnisse des Präsidenten an sich zu reißen.
Am Montag schließlich erklärte Roman Bessmertny, Chef der Parlamentsfraktion von »Unsere Ukraine«, daß seine Partei in die Opposition gehen werde, falls die Vereinbarungen des »Nationalen Einheitspaktes« nicht im vollen Umfang realisiert würden. »Wir fordern, daß alle ausgearbeiteten innenpolitischen und außenpolitischen Programme in den Text des Koalitionsabkommens aufgenommen werden«, so Bessmertny ultimativ.