„Junge Welt“ 02.10.06
60 Prozent der Polen wollen Neuwahlen. Konservative ungerührt. Regierungspartei PiS streut Verschwörungstheorien
Die von einem Korruptionsskandal erschütterte polnische Regierungspartei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) versucht, die Affäre auszusitzen. Marek Jurek (PiS), Chef des polnischen Parlaments, des Sejm, teilte am vergangenen Freitag mit, keine aktuelle Sondersitzung einzuberufen, wie von der Opposition gefordert wird. Eine solche Sitzung würde nur zu einer »Manifestation gegen die Regierung« ausarten.
Korruption und Paranoia
Seit der Ausstrahlung eines kompromittierenden Videos, in dem Spitzenpolitiker der PiS einer Abgeordneten der ehemaligen Koalitionspartei, der populistischen »Samoobrona«, teilweise illegale Vergünstigungen für den Fall eines Fraktionswechsels anbieten, befindet sich die PiS aber in der Defensive. In jüngsten Umfragen fordern über 60 Prozent der Polen den Rücktritt der Regierung.
Die Samoobrona-Politikerin Renata Berger sollte für ihren Übertritt mit einem Spitzenamt im Landwirtschaftsministerium bestochen werden. Zudem könne die bei einem Verlassen ihrer Fraktion fällige parteiinterne Strafe in Höhe von 500000 Zloty der Sejm übernehmen, bot Adam Lipinski, der Vizevorsitzende der PiS, ihr an. Seit dem Koalitionsbruch und der Entlassung Andrzej Leppers als Landwirtschaftsminister ist die PiS bemüht, möglichst viele Abgeordnete aus dessen Partei zum Übertritt zu bewegen, um wieder eine Regierungsmehrheit zu erlangen.
Schwer wiegt auch ein anderes Versprechen der PiS: Gegen Berger läuft ein Strafverfahren, weil sie mutmaßlich Unterschriften auf Wahllisten gefälscht hat. In dem Video versichern ihr hochrangige PiS-Mitglieder, sich »um die Sache zu kümmern«, sprich: Einfluß auf die Staatsanwaltschaft zu nehmen.
Die Reaktionen der PiS, die mit dem Anspruch antrat, den polnischen Staat von Korruption und Vetternwirtschaft zu reinigen, schwankten zwischen Ignoranz und Paranoia. Auf einer inzwischen schon legendären, von schallendem Gelächter der anwesenden Journalisten begleiteten Pressekonferenz, überboten sich mehrere Abgeordnete der Partei in Verschwörungstheorien. Die Veröffentlichung des kompromittierenden Filmmaterials sei eine »Provokation«, hinter der »das System« stehe, erklärten die PiS-Hinterbänkler den amüsierten Pressevertretern. Hinter »dem System« sollen wahlweise die scheinbar immer noch kommunistischen Geheimdienste Polens oder – eine Neuschöpfung der PiS – die »liberale Kommune« stehen. Mit diesem Begriff bezeichnet die PiS die oppositionellen Sozialdemokraten und Liberalen. Neben solchen Hirngespinsten deuten PiS-Abgeordnete den Korruptionsskandal zu einem ganz normalen politischen Prozeß um, der sich so oder ähnlich »immer wieder« in der polnischen Politik ereignet.
Keine rechte Einheitspartei
Ähnlich argumentieren die Kaczynski-Zwillinge nach langem Schweigen. Premier Jarosaw Kaczynski erklärte in einer Fernsehansprache die gesamte Affäre zu einem Komplott von Kräften, die die von der PiS betriebene »Gesundung des polnischen Staates« untergraben wollen. Präsident Lech Kaczynski griff hingegen am Donnerstag direkt die Medien an und bezeichnete die Veröffentlichung der Videos als ein »Verbrechen gegenüber der Demokratie«.
Die Enttäuschung in der Führungsriege der PiS ist groß: Die Kaczynskis wollten in Polen eine große, das gesamte rechte Spektrum umfassende Partei aufbauen, indem ihre Koalitionspartner einverleibt werden. Mit der rechtsextremen »Liga der Polnischen Familien« (LPR) ist diese Rechnung bereits aufgegangen. Die LPR würde bei eventuellen Neuwahlen garantiert an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, weswegen sie sich als treuer Koalitionspartner krampfhaft an die derzeitige Regierung klammert. An der populistischen Samoobrona sind die Konservativen nun gescheitert. Auch, weil deren Chef Andrzej Lepper nicht bereit war, alle sozialfeindlichen Kompromisse mitzutragen. Und von weiteren Stimmkäufen wird die PiS nun wohl absehen.