»Tschetschenisierung« Tschetscheniens

„Junge Welt“ vom 21.08.06
Rebellen erfolgreich marginalisiert. Wiederaufbau und russischer Truppenrückzug schreiten voran
Tomasz Konicz
Am Samstag gab die Pressestelle des tschetschenischen Innenministeriums bekannt, daß inzwischen 124 Angehörige bewaffneter tschetschenischer Rebellenorganisationen das Angebot einer Amnestie angenommen und sich den prorussischen Behörden der krisengeschüttelten, südrussischen Provinz gestellt haben. Inzwischen geben auch prominente tschetschenische Rebellen auf. Am Freitag hatte sich ein jüngerer Bruder von Doku Umarow den Behörden gestellt. Umarow gilt seit der Erschießung Schamil Bassajews durch russisches Militär im Juli dieses Jahres als der offizielle Anführer der tsche­tschenischen Untergrundkämpfer, die eine unabhängige, islamische Republik erkämpfen wollen.

Die rege Inanspruchnahme der russischen Amnestie durch tschetschenische Rebellen ist das sichtbarste Zeichen für die Agonie der separatistischen Bewegung in dieser nordkaukasischen Republik. Bewaffnete Auseinandersetuzungen finden inzwischen nur noch sporadisch statt, von einer permanenten militärischen Kampagne seitens der Rebellen kann keine Rede mehr sein. So konnte Rußlands Präsident Wladimir Putin Anfang August stolz die Halbierung der russischen Truppenstärke in Tschetschenien auf 25000 Mann bekanntgeben. Die Sicherheit in der Unruheprovinz werden zukünftig verstärkt tschetschenische Kräfte übernehmen. Bis 2008 sollen die Sicherheitskräfte des tschetschenischen Innenministeriums eine Truppenstärke von 20000 Mann erreichen und für die Sicherheitspolitik weitgehend eigenverantwortlich sein.

Rußland ist es gelungen, diesen Konfliktherd zu »tschetschenisieren«. Viele ehemalige Rebellen haben die Seiten gewechselt und kämpfen nun an der Seite Rußlands gegen ihre ehemaligen Waffenbrüder – und das offensichtlich effektiver als das russische Militär. Den Großteil der moskautreuen Sicherheitskräfte bildet die ehemalige Armee des im Mai 2004 bei einem Attentat getöteten, ehemaligen Muftis Ahmed Kadyrow. Im ersten Tsche­tschenienkrieg noch gegen die Russen kämpfend, überwarf sich Kadyrow mit den anderen Rebellenführern und wurde im Sommer 2000 von Putin zum Chef der Übergangsverwaltung ernannt, bis er im Herbst 2003 zum Präsidenten gewählt wurde. Nach dem Tod seines Vaters füllte Ramsan Kadyrow das entstandene Machtvakuum aus. Ramsan könnte aber erst im Oktober dieses Jahres das Präsidentenamt übernehmen, da dafür ein Mindestalter von 30 Jahren vorgeschrieben ist.

Die unzweifelhafte Autorität Kadyrows resultiert aber nicht nur aus den ihm treu ergebenen, militärischen Formationen, sondern vor allem aus den sichtbaren Erfolgen beim Wiederaufbau des geschundenen Landes. Moskau überweist jährlich große Geldbeträge für den tschetschenischen Wiederaufbau, und Kadyrow ist es gelungen, die notorische Veruntreuung der Gelder zumindest einzudämmen. Darüber hinaus wurde ein »Kadyrow-Fonds« eingerichtet, in den alle Staatsbediensteten eine nicht ganz freiwillige »Spende« zu entrichten haben. Auch diese Gelder fließen in diverse Aufbauprojekte, wie Schulen oder Sportstätten. Trotz unübersehbarer autoritärer Tendenzen und eines ausufernden Personenkults um Kadyrow kann auch eine Verbesserung der Menschenrechtslage konstatiert werden: Laut der angesehenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial ist die Zahl der Morde und Verschleppungen im vergangenen Jahr um ein Drittel zurückgegangen.

Der Erfolg Kadyrows scheint auch Moskau langsam unheimlich zu werden. Laut Nowyje Iswestija soll Putin bei einem Gipfeltreffen am vergangenen Mittwoch Kadyrow gedrängt haben, auf seine Präsidialambitionen zu verzichten, und diesen Posten vorerst Alu Alchanow zu überlassen, der über keine gesicherte Machtbasis im Land verfügt. »Kadyrow will sich nicht von Moskau kontrollieren lassen, höchstens von Präsident Putin persönlich«, so die Nowyje Iswestija, russische Sicherheitskreise zitierend.

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