Schocktherapie in Ungarn

„Junge Welt“ vom 12.06.06
Sozial-liberale Koalition will größtes Haushaltsdefizit in der EU durch Kürzungen von Subventionen und im öffentlichen Dienst sowie durch Steuererhöhungen bekämpfen

Nach wochenlangen Spekulationen in den ungarischen Medien ließ Ferenc Gyur­csany, der kürzlich als Premier wiedergewählte Vorsitzende der sozialis­tischen MSZP, bei einem Treffen mit Gewerkschaftern und Unternehmern am Samstag die Katze aus dem Sack: »Wir brauchen eine neue Balance. Während der letzten vier Jahre sahen wir uns einer konstant angespannten Haushaltslage ausgesetzt. Es besteht zwar kein Grund zur Anwendung einer Schocktherapie, aber wir brauchen kluge Strukturreformen und mutige Veränderungen.« Das ungarische Haushaltsdefizit erreicht tatsächlich dramatische Dimensionen: In diesem Jahr hofft die wiedergewählte Koalition aus Sozialisten und den liberalen »Freien Demokraten« (SZDSZ), es auf sechs Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) beschränken zu können. Der Internationale Währungsfonds warnte in einer am Dienstag vorgestellten Studie hingegen, daß das ungarische Haushaltsdefizit Ende 2006 durchaus acht Prozent des BSP erreichen könnte.

Um der Eurozone beitreten zu können, dürfte Ungarn ein Haushaltsdefizit von höchstens drei Prozent des BSP aufweisen. Die EU, internationale Ratingagenturen und die Zentralbank setzen Gyurcsany unter Druck, damit dieser das Defizit möglichst rasch abbaut. Der Premier nutzte den samstäglichen Termin, um die ungarische Öffentlichkeit erstmals mit konkreten finanzpolitischen Maßnahmen zu konfrontieren, die geeignet sein sollen, dieses Ziel bis 2008 zu erreichen – bis 2010 soll Ungarn dann der Europäischen Währungsunion beitreten. Die von der Regierung Gyurcsany angestrebte Haushaltssanierung beruht auf drei Ansätzen: »Schlankheitskur« für den Staatsdienst, radi­kale Ausgabenkürzungen und massive Steuererhöhungen.
Schlanker Staat
Der Premier machte frühzeitig den »aufgeblähten Staat« für einen Großteil der Haushaltsprobleme des Landes verantwortlich. Schon während der Koalitionsverhandlungen wurde vereinbart, zwecks Kostensenkung die Anzahl der Ministerien von 17 auf elf zu verringern. Unter anderem sollen das Sozial- und das Arbeitsminis­terium sowie das Bildungs- und das Kulturressort fusionieren. Eine Halbierung der Abgeordnetenzahl im ungarischen Parlament auf 200 wird ebenfalls diskutiert. Nach Informationen der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet plant die Regierung in den nächsten drei Jahren, bis zu 100000 öffentlich Bedienstete zu entlassen. Damit fände sich jeder siebte Beschäftigte Ungarns auf der Straße wieder, so die Zeitung. Von Regierungsseite wurde bisher nur bestätigt, daß an die 10000 Minis­terien- und Regierungsmitarbeiter entlassen werden sollen.
Ausgabenkürzungen
Das Potential an Einsparungen, die durch Ausgabensenkungen der öffentlichen Hand realisiert werden sollen, bezifferte Gyurcsany auf 350 bis 400 Milliarden Forint (1,7 bis 1,9 Milliarden US-Dollar) allein in diesem Jahr. 2007 sollen die staatlichen Budgetkürzungen schon 1000 Milliarden Forint (4,7 Milliarden US-Dollar) betragen. Die konkreten Kürzungsvorhaben sollen am heutigen Montag vom Kabinett diskutiert und morgen dem Parlament vorgelegt werden. Doch die Eckpunkte des Pakets sind bereits jetzt bekannt: Die staatlichen Zuschüsse für den Kauf von Medikamenten sollen verringert, die Subventionierung des Gaspreises stufenweise eingestellt, Ermäßigungstarife für Senioren und Studenten reduziert, die Löhne im öffentlichen Dienst eingefroren und weitere staatliche Subventionen im sozialen Sektor auf den Prüfstand gestellt werden.
Steuererhöhungen
In vergangenen Jahr versprach die jetzt wiedergewählte Regierung eine Reihe von Steuersenkungen, die sich bis 2010 auf etwa 1000 Milliarden Forint (4,7 Milliarden US-Dollar) hätten belaufen sollen. Hiervon ist nun keine Rede mehr. Statt dessen wird eine Mehrwertsteuererhöhung von 15 auf 20 Prozent diskutiert, die schon ab dem 1. September umgesetzt werden könnte. Eine signifikante Erhöhung dieser Steuer kündigte Finanzminister Janos Veres bereits Ende Mai an. Daneben haben sich die ungarischen Sozialisten von ihren bundesrepublikanischen Genossen die Praxisgebühr abgeguckt, die als »Visitengebühr« eingeführt wird und nicht mehr als den Preis »einer halben Schachtel Zigaretten« betragen soll, wie sich Gesundheitsminister Lajos Molnár ausdrückte. Ferner sind Erhöhungen von Unternehmenssteuern und die Einführung einer Vermögenssteuer geplant.

Ausgabensenkungen und Steuererhöhungen sollen jeweils zur Hälfte zum Abbau des Haushaltsdefizits beitragen. Die Details will man schnellstmöglich ausarbeiten und das ganze Sparpaket noch vor der Sommerpause durchs Parlament bringen. Die »klugen Strukturreformen und mutigen Veränderungen«, die Premier Gyurcsany ankündigte, entpuppen sich beim näheren Hinsehen als genau das, was sie nicht sein sollten: als eine auf Drängen Brüssels aufgelegte finanzpolitische Schocktherapie, die Ungarn bis 2010 in die Eurozone prügeln soll.

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