Parlamentschef auf Abruf

„Junge Welt“ vom 17.08.06
Neue Runde der mühseligen Regierungsbildung in Tschechien

Zehn Wochen nach den Parlamentswahlen scheint die Regierungsbildung in der Tschechischen Republik in Fahrt zu kommen. Die Parlamentsblockade zwischen rechten und linken Parteien im tschechischen Parlament wurde am Dienstag zum ersten Mal durchbrochen, als der kaum bekannte sozialdemokratische Abgeordnete Miloslav Vlcek mit 174 von 200 möglichen Stimmen zum Parlamentspräsidenten gewählt wurde. Mit der Ernennung Vlceks ist nun der verfassungsgemäße Weg zur Bildung einer neuen Regierung frei. In den vergangenen zweieinhalb Monaten scheiterten sechs Versuche, einen Unterhauschef zu bestimmen, da linke und rechte Parteien über jeweils 100 Parlamentssitze verfügen.
Wahl unter Vorbehalt
Das Kabinett des Vorsitzenden der tschechischen Sozialdemokraten (CSSD), Jirí Paroubek, das die Amtsgeschäfte während der Verfassungskrise weiterführte, erklärte am Donnerstag seinen Rücktritt. Der tschechische Präsident Václav Klaus konnte noch am selben Tag Mirek Topolánek, den Vorsitzenden der größten Parlamentsfraktion, mit der Regierungsbildung beauftragen. Topolánek kündigte an, mit seiner konservativen Bürgerpartei (ODS) eine Minderheitsregierung bilden zu wollen, die von der CSSD, der Christdemokratischen Volkspartei (KDU-CSL) und die Grünen toleriert werden soll.

Die Wahl Vlceks zum Parlamentspräsidenten erfolgte nur unter Vorbehalt der Konservativen. Die ODS bestand darauf, daß Vlcek bei seiner Wahl öffentlich verspricht, im Notfall zurückzutreten, bevor er seine »verfassungsgemäßen Rechte« wahrnehmen kann. Laut tschechischer Verfassung kann der Parlamentspräsident den Premierminister nominieren, wenn der vom Präsidenten vorgeschlagene Kandidat, also der konservative Topolánek, zweimal bei der Vertrauensabstimmung scheitert. Die Konservativen hatten sichtlich Angst, daß die Sozialdemokraten nach der Wahl ihres Parlamentspräsidenten Topolánek zweimal abwählen würden, um selbst mit der Regierungsbildung beauftragt zu werden.

Der neue Parlamentschef übt sein Amt somit auf Abruf aus. Laut Topolánek sollen die Sondierungsgespräche über die Tolerierung seiner Minderheitsregierung »zwei bis drei Wochen« dauern, hiernach würde Parlamentschef Vlcek durch den Vorsitzenden der CSSD, Jirí Paroubek, ersetzt werden. Doch die Sozialdemokraten haben diese Prognose des angehenden, konservativen Premiers als zu optimistisch bezeichnet: »Wenn die Verhandlungen so weitergehen, habe ich meine Zweifel, ob eine Lösung erreicht werden kann«, erklärte der Vorsitzende der CSSD gegenüber dem tschechischen Fernsehen.
Hoher Preis programmiert
Tatsächlich wird die konservative OSD einen hohen politischen Preis für die Übernahme der Regierungsverantwortung entrichten müssen, die Forderungen der CSSD liegen schon auf dem Verhandlungstisch: Ein Teil der Minderheitsregierung soll aus »unabhängigen Experten« gebildet werden, bei deren Ernennung die CSSD ein Mitspracherecht haben will. Die Regierungszeit des Kabinetts Topolánek soll auf zwei Jahre beschränkt sein, nach Ablauf dieser Periode sollen Neuwahlen ausgeschrieben werden. Die Sozialdemokraten weigern sich darüber hinaus, die Einführung einer von den Konservativen geplanten »Flat-Tax« auch nur zu diskutieren. Bei diesem neoliberalen Lieblingsprojekt der OSD handelt es sich um einen einheitlichen Steuersatz für alle Einkommensgruppen und Steuerarten, wie er über vier Jahre in der Slowakei praktiziert wurde. Schließlich entzweien Pläne für ein Raketenabwehrsystem der USA die politischen Lager des Landes, da inzwischen publik wurde, daß Washington im mährischen Olomouc einen Raketenabwehr-Stützpunkt errichten will. Die CSSD besteht darauf, daß ein landesweites Referendum zu diesem Thema angesetzt wird.

In den kommenden Verhandlungen über die Duldung der konservativen Minderheitsregierung wird sich erweisen, welche ihrer Forderungen die CSSD durchsetzen kann – und wer damit die Parlamentswahlen tatsächlich gewonnen hat.

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