Kein Geld für Stifte und Hefte

„Junge Welt“ vom 16.08.06
»Solidarisches Polen« in Theorie und Praxis: Zehntausende Erstkläßler chancenlos

Am 1. September fängt in Polen ein neues Schuljahr an, 380000 Erstkläßler werden eingeschult. Laut einer jüngst veröffentlichten Studie leben 90000 dieser Kinder in »äußerst armen Familien«, deren Monatseinkommen unter 316 Zoty pro Kopf liegt (ein Euro sind ca. vier Zoty). Ein Großteil dieser Familien kann die finanziellen Mittel für die erste Schulausstattung ihrer Kinder nicht aufbringen, selbst zur Anschaffung der grundlegenden Utensilien wie Stifte oder Hefte fehlt das Geld.

Abhilfe versprachen im Wahlkampf 2005 die nun regierenden rechten Parteien. Insbesondere die konservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) zog mit der Parole »Solidarisches und soziales Polen« gegen die Neoliberalen der »Bürgerplattform« (PO) erfolgreich in die Wahlkampfschlacht. Auch die rechtsradikale »Liga der Polnischen Familien« (LPR) versprach finanzielle Unterstützung für kinderreiche, arme Familien. Beide Parteien wollten mit der massiven Hilfe den selbst im erzkonservativen Polen an Dynamik gewinnenden Geburtenrückgang bekämpfen, da auch östlich der Oder Kinder oftmals als Armutsrisiko wahrgenommen werden.

Nach dem mit viel Mediengetöse eingeführten »Mutterschaftsgeld« von ca. 1000 Euro, das allen werdenden Müttern einmalig zusteht, ist der Elan der rechten Politiker erlahmt. Die Kinder aus ärmsten Familien können nur noch auf das Sozialprogramm »Erste Schulausstattung« hoffen, das ausgerechnet von der vorherigen sozialdemokratischen und neoliberalen Regierung der »Vereinigung der Demokratischen Linken« 2002 eingeführt wurde. Doch die Rechten setzten hier den Rotstift an: Vor zwei Jahren erhielten Erstkläßler aus armen Verhältnissen neben den Schulbüchern auch Schulranzen, Stifte und Hefte. Nach der Regierungsübernahme der konservativ-rechtsradikalen Koalition sind nur noch Schulbücher von diesem Sozialprogramm abgedeckt, die gesamte restliche Ausstattung muß von der Familie erbracht werden. Offensichtlich verschwindet das Interesse der selbsternannten »Bewahrer der polnischen Familie« an Kindern, sobald diese geboren sind.

Journalisten der linken polnischen Tageszeitung Trybuna haben im Selbstversuch eine komplette Schulausstattung erworben und hierfür 350 Zoty ausgegeben. Zum Vergleich – Verkäuferinen in Buch- und Schreibwarenläden verdienen monatlich ca. 700 Zoty. Sie können die Schulausstattung nicht erwerben, die sie verkaufen.

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