Klima der Angst

„Junge Welt“ vom 28.06.06
Russische Neonazis haben regen Zulauf und intensivieren ihre Aktivitäten. Zahl der Opfer rassistischer Gewalt stark gestiegen

Den 65. Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschands auf die Sowjetunion nahmen etliche russische Nichtregierungsorganisationen zum Anlaß, um in Moskau die Russische Antifaschistische Front aus der Taufe zu heben. Beteiligt am Aufbau der neuen Dachorganisation sind unter anderem das antirassistische Informationszentrum Sowa, die Holocaust-Stiftung und das Moskauer Antifaschistische Zentrum. Die Antifaschistische Front will sich vor allem auf Informations- und Aufklärungsarbeit konzentrieren und als Lobbyorganisation die Rechte von Ausländern gegenüber dem russischen Staat vertreten.

Nach Angaben von Sowa kamen seit Beginn dieses Jahres 18 Menschen bei rassistisch motivierten Übergriffen ums Leben, über 100 wurden verletzt. 2005 wurden 28 Menschen getötet und 366 verletzt. Besorgt zeigte sich Doudou Diene, der Sonderberichterstatter für Vorfälle im Zusammenhang mit Rassismus der Vereinten Nationen, der vom 12. bis zum 17. Juni die Zunahme von rassistisch motivierten Tötungen in Rußland untersuchte. Auf einer Pressekonferenz sagte Diene, er sei schockiert über das »Klima der Angst«, das das Leben der in Rußland lebenden Ausländer durchdringe. »Besorgniserregend ist das Gefühl absoluter Isolation, das Mitglieder ausländischer Gemeinschaften mir gegenüber zum Ausdruck brachten. Afrikaner, die hier schon seit 20 bis 30 Jahren leben und die russische Staatsbürgerschaft besitzen, sagten mir, daß sie und ihre Kinder nicht mehr rausgehen können, weil sie Angst vor Übergriffen haben. Das ist ein sehr alarmierendes Zeichen«, so Diene wörtlich.

Die Übergriffe gehen zumeist von zum Teil straff organisierten russischen Skinheads aus. Der Szene werden an die 50000 Mitglieder zugerechnet, die insbesondere in Moskau und St. Petersburg brutal gegen Ausländer und Linke vorgehen. Am 9. Februar 2004 wurde in St. Petersburg Khurscheda Sultonowa, ein neunjähriges tadschikisches Mädchen, von einer Bande russischer Skins ermordet. Die Täter wurden gefaßt und wegen »Rowdytum« zu fünf Jahren Haft verurteilt. Timur Katscharawa, ein antifaschistischer Aktivist, wurde am 13. November 2005 von Skinheads getötet. Im April diesen Jahres erlag Lamisar Samba, eine senegalischer Student, seinen Schußverletzungen, die ihm russische Neonazis zufügten. Linke Aktivisten, Kaukasier und ausländischen Studenten sind die Hauptbetroffenen der rechten Gewalt. Daneben ist aber auch die Zunahme des sogenannten traditionellen Rassismus, der sich vor allem gegen Roma richtet, und des Antisemitismus zu beobachten.

Warum die russischen Skinheads sogar Jagd auf Kinder machen, konnte Times-Reporter Mark Franchetti bei dem Besuch eines paramilitärischen Trainingslagers der Rechten aus erster Hand erfahren. »Wir sollten nicht nur die Erwachsenen töten. Wir müssen auch die Kinder loswerden. Wenn du Kakerlaken zerquetschst, dann nicht nur die großen. Du tötest auch die kleinen«, so ein Naziskin gegenüber dem Journalisten. Der 21jährige, der Tesak – übersetzt: Das Beil – gerufen wird, genießt wegen seiner Brutalität großes Ansehen im Lager. Gegenüber Franchetti brüstet er sich damit, schon etliche Ausländer »zu Klump gehauen« zu haben. Organisator der Camps, bei dem neben Wehrsportübungen auch ideologische Schulungen auf dem Programm stehen, ist die Nationalsozialistische Gesellschaft Rußlands.

Präsident Wladimir Putin, dessen älterer Bruder bei der Belagerung Leningrads als Säugling ums Leben kam, verurteilte bei mehreren Anlässen den in Rußland erstarkenen Neofaschismus. Die kremltreue Jugendorganisation Naschi (Die Unseren) ist mit Flugblattaktionen und antifaschistischen Aufklärungskampagnen zumindest in Erscheinung getreten. Doch die staatlichen Organe scheiterten bisher daran, eine adäquate Strategie gegenüber diese faschistischen Umtriebe zu entwickeln. »Niemand möchte zugeben, daß ausgerechnet das Land, das den Faschismus besiegte, eine Brutstätte für Faschisten sein könnte«, sagte Galina Kozewnikowa vom Informationszentrum Sowa.

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