„Junge Welt“ vom 06.07.06
Tschetscheniens Präsident erklärt Konflikt für beendet, derweil Rebellengruppen eine Ausweitung der Kampfzone ankündigen
Alu Alchanow, der moskauorientierte Präsident Tschetscheniens, ist ein Berufsoptimist. Anfang Juni erklärte er den Tschetschenienkonflikt gegenüber dem Rundfunksender »Echo Moskaus« für beigelegt: »Ich will die Situation in der Republik nicht idealisieren. Wir sind uns voll und ganz darüber im klaren, daß es noch Probleme gibt. Aber ich bin der Ansicht, daß der Konflikt in Tschetschenien bereits beigelegt ist.« Grund zu dieser optimistischen Einschätzung der Lage gaben Alchanow einige Fahndungserfolge der russischen Sicherheitskräfte, die etliche Anführer der tschetschenischen Rebellen ausschalten konnten. Zuletzt wurde Mitte Juni Abdul Chalim Saidullajew getötet, der militärische Anführer der tschetschenischen Mudschaheddin. Die russische Seite erhöht ihren Fahndungsdruck nun vor allem auf Schamil Bassajew, der als der einflußreichste unter den Rebellenchefs gilt.
Dennoch kommt der Nordkaukasus nicht zur Ruhe. Am Mittwoch bestätigte das russische Verteidigungsministerium einen Rebellenangriff auf einen Militärkonvoi, bei dem sechs russische Soldaten getötet und 15 verwundet wurden. Doku Umarow, Saidullajews Nachfolger als militärischer Anführer der Rebellen, kündigte kurz vor diesem Überfall die Ausweitung der Kampfhandlungen auf den gesamten Nordkaukasus und die Wiederaufnahme von bewaffneten Aktionen auf russischem Territorium an.
Tatsächlich ist in jüngster Zeit eine Zunahme separatistischer Aktivitäten in mehreren nordkaukasischen Republiken zu verzeichnen. Am 21. Juni wurde der Chef der dagestanischen Polizei, Saigidsalim Sabitow, in der Nähe der dagestanischen Stadt Chassawjurt erschossen. Sabitow war federführend an vielen Militäreinsätzen gegen lokale und tschetschenische Rebellen beteiligt, die seine Eliminierung zur obersten Priorität erklärt hatten. Er hatte seit 2002 drei Mordanschläge überlebt.
Im Mai dieses Jahres war der erste Vizeinnenminister Inguschetiens, Dschabrail Kostojew, bei einem Bombenanschlag getötet worden. Kostojew galt als ein entschiedener Gegner tschetschenischer und inguschetischer Separatisten. Auf ihn waren zuvor ebenfalls bereits mehrere Anschläge verübt worden. Den diversen, im Nordkaukasus operierenden Gruppen gelang es darüber hinaus, den Oberkommandierenden der inguschetischen Polizeisondereinheiten und den Vizechef der Kriminalpolizei Dagestans umzubringen. Militärische Auseinandersetzungen wurden auch aus der Republik Kabardino-Balkarien gemeldet.
Nach Informationen der von tscheÂtschenischen Rebellen betriebenen Website »Kavkaz Center« soll Schamil Bassajew für den Strategiewechsel der Rebellen verantwortlich sein. Bei einem Treffen von Kommandeuren der Aufständischen habe er dazu aufgerufen, kleine, agile »Gruppen für spezielle Operationen« aufzubauen, um Personen und Objekte schnell und präzise angreifen zu können. Dennoch scheint diese neue Taktik eine Reaktion auf die sich rapide verschlechternde, strategische Lage der Rebellen zu sein. Selbst Ahmed Zakajew, ein einflußreicher, exilierter tschetschenischer Anführer, mußte im Gespräch mit der polnischen Gazeta Wyborcza zugeben, daß ein militärischer Sieg der Separatisten nicht mehr möglich sei.
Die Tschetschenen teilten sich nun in zwei Gruppen: diejenigen, die in den prorussischen Milizen kämpften und andere, die in die Berge zu den Partisanen gingen, so Zakajew weiter. Damit bestätigte er russische Lageeinschätzungen, die von einem Popularitätsverlust der Separatisten und einem damit einhergehenden, erfolgreichen Aufbau prorussischer Milizen sprechen. Somit könnte es sich bei Alu Alchanow eher um einen Realisten als einen Berufsoptimisten handeln.