Publiziert am 28.04.06 in „junge welt“
Trotz der jüngsten Spannungen wurde beim deutsch-russischen Gipfel in Tomsk eine engere Kooperation angestrebt – bis auf weiteres
Dutzende Spitzenbeamte, sieben Minister und eine hochrangig besetzte Wirtschaftsdelegation haben Bundeskanzlerin Merkel während des zweitägigen deutsch-russischen Gipfels im westsibirischen Tomsk begleitet. Überschattet wurde das gestern zu Ende gegangene Treffen von russischen Drohungen, den Schwerpunkt der Öl- und Gaslieferungen des Landes künftig von Europa auf Asien zu verlegen, sollte die Expansion des russischen Gasmonopolisten Gasprom in Westeuropa weiterhin behindert werden. Beide Seiten waren während der Verhandlungen bestrebt, die Dissonanzen der vergangenen Tage auszuräumen und den Willen zur Intensivierung der bilateralen Beziehungen zu betonen.
In der Tat gewinnt die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder an Dynamik. Deutschland ist inzwischen Rußlands größter Handelspartner, das Volumen des deutsch-russischen Handels erreichte 2005 rund 39 Milliarden Euro und stieg somit gegenüber dem Vorjahr um 25 Prozent. Die deutschen Investitionen in Rußland sollen sich in den nächsten Jahren auf rund zwei Milliarden Euro summieren. So wird VW im Moskauer Umland für 300 Millionen Euro ein Automobilwerk errichten, mit der Zielsetzung, den Marktanteil des Unternehmens von zwei auf zehn Prozent zu heben. Siemens-Vertreter führten in Tomsk Sondierungsgespräche bezüglich der Lieferung von Hochgeschwindigkeitszügen an Rußland. Spitzenmanager des EADS-Konzerns loteten die Möglichkeiten einer militärtechnischen Zusammenarbeit aus, die Gespräche sollen Mitte Mai in Berlin fortgeführt werden. Im Zentrum der Wirtschaftsverhandlungen stand der Energiesektor, hier gelang es der BASF, sich – in Zusammenarbeit mit Gasprom – an der Ausbeutung des sibirischen Gasfelds »Juschno Russkoje« zu beteiligen.
Angesichts dieser innigen wirtschaftlichen Kooperation gaben sich beide Seiten betont harmoniebedürftig: »Wir hoffen, daß auf 30, 40 Jahre hinaus niemand Grund hat zu sagen, Rußland sei als Lieferant weniger zuverlässig geworden«, sagte Rußlands Wirtschaftsminister German Gref vor Spitzenmanagern beider Länder in Tomsk. Merkel bezeichnete Rußland wiederum als »strategischen Partner«.
Die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie scheint Wunder gewirkt zu haben. Diese erneute Annäherung beider Länder zwingt die deutsche Diplomatie in einen Spagat zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten, mit denen ebenfalls eine Intensivierung der Beziehungen angestrebt wird. Es ist aber insbesondere Washington, das gegenüber Moskau einen Konfrontationskurs verfolgt und die deutsch-russische Annäherung skeptisch beobachtet. Die amerikanischen Bedenken wird Merkel sicherlich ausräumen können. Im Mai soll Regierungskreisen zufolge die Kanzlerin eine Grundsatzrede zur »neuen Ostpolitik« halten, in der ein verstärktes Engagement Deutschlands und der EU im Kaukasus propagiert wird. Bei der Neuauflage des »Great Game« um Einflußsphären können aus »strategischen Partnern« sehr schnell »strategische Feinde« werden.