Publiziert am 19.04.06 in „junge welt“
Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit dramatisch gestiegen
Egal, wer die für den 23. April angesetzte zweite Runde der Parlamentswahlen in Ungarn gewinnt; über nennenswerte wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume werden in der nächsten Zeit weder die Sozialisten (MSZP) noch die Konservativen (Fidesz) verfügen. Der »Sachzwang«, der die zukünftige Regierung zu einem rigiden Sparkurs zwingen wird, besteht aus zwei Elementen. Neben einem wachsenden Haushaltsloch belastet auch eine negative Leistungsbilanz das Land. Letzteres bedeutet, daß das Land wesentlich mehr Güter, Diensleistungen und Kapital ein- als ausführt.
Kurz nach der ersten Runde des Urnengangs gab das ungarische Finanzministerium ein Haushaltsdefizit für März bekannt, das mit 353,7 Milliarden Forint alle Befürchtungen deutlich übertraf (1 Euro ca. 267 Forint). Im ersten Quartal erreichte das Minus im Etat bereits 51 Prozent der geplanten Neuverschuldung für das gesamte Jahr. 2005 betrug die Unterdeckung des Etats sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), 2006 könnte sie bis zu acht Prozent betragen. Die Bruttoauslandsverschuldung des Landes hat ebenfalls neue Höhen erklommen. Sie betrug 2005 rund 65 Milliarden US-Dollar, das sind etwa 60 Prozent des BIP oder 92 Prozent des Wertes der gesamten Exporte Ungarns in diesem Zeitraum.
Daneben weist Ungarn ein schon traditionelles, seit Jahren bestehendes Leistungsbilanzdefizit auf, das im vorigen Jahr auf 6,4 Milliarden Euro anstieg. Da viele Importeure ihre Aktivitäten verschleiern, um die Mehrwertsteuer nicht zahlen zu müssen, geht die ungarische Zentralbank davon aus, daß das tatsächliche Defizit viel höher liegt. Fast 8,7 Milliarden Euro, oder neun Prozent des BIP soll es betragen. Dem gegenüber stehen ausländische Direktinvestitionen von gerade mal 2,9 Milliarden Euro im Jahr 2005, sie deckten also nicht mal 50 Prozent des offiziellen Defizits. Somit muß der ungarische Staat immer größere Mittel für den Schuldendienst bereitstellen. Gleichzeitig führt die negative Leistungsbilanz zu einem Abfluß von Kapital aus dem Land – vorzugsweise gen Westen, denn westliche Konzerne dominieren die Wirtschaft Ungarns.
Der Anteil des ungarischen BIP, der von Unternehmen im westlichen Besitz generiert wird, beträgt in 40 Prozent. An die 75 Prozent der Exporterlöse des Landes fließen auf die Konten nicht-ungarischer Konzerne, der Anteil der westlichen Banken am Gesamtmarkt beträgt etwa 60 Prozent. Gerade der enorme Kapitalabfluß durch Rückführung der Gewinne in die Herkunftsländer der Investoren treibt selbst Befürwortern der Westintegration die Sorgenfalten auf die Stirn.
Neben den exportorientierten Westkonzernen ist auf dem ungarischen Markt eine Vielzahl von Kleinunternehmen aktiv, die nach 1989 gegründet wurden. Sie produzieren hauptsächlich für den Binnenmarkt und müssen vielfach um ihr Überleben kämpfen. Für 2006 bahnt sich ein neuer Pleitenrekord an.
Neben den gesamtwirtschaftlichen Problemen Ungarns auf den liberalisierierten Märkten ist auch eine zunehmende geographische und soziale Spaltung der ungarischen Gesellschaft zu beobachten. Das Wirtschaftswachstum des Landes beschränkt sich weitgehend auf Westungarn und speziell auf die Gebiete in Grenznähe zu Österreich. Die landesweite Erwerbslosenquote von sieben Prozent wird in Budapest deutlich unterschritten, während sie in den östlichen und nordöstlichen Regionen 16 Prozent überschreitet. Generell ist ein Anwachsen der Erwerbslosigkeit zu befürchten. Mit einem durchschnittlichen Nettomonatsgehalt von 405 Euro gehört Ungarn nicht mehr zu den klassischen Billiglohnländern. Viele Konzerne planen bereits, Produktionsstätten in Nachländer wie die Slowakei zu verlagern, wo sowohl Lohn- als auch Steuerniveau wesentlich niedriger sind.
Die wenigen positiven Daten, wie das Wirtschaftswachstum von 4,3 Prozent und die auf 2,3 Prozent gesunkene Inflation, verblassen angesichts des ausufernden Doppedefizits. Der Forint legte in den vergangenen Monaten eine eindrucksvolle Talfahrt hin und verlor knapp zehn Prozent seines Wertes in Relation zum Euro. Inzwischen ist auch der für 2010 anvisierte Beitritt Ungarns zur Eurozone unrealistisch. Das Land könne mit einer Einführung des Euro nicht vor 2014 rechnen, so die weitverbreitete Meinung unter westlichen Analysten.