Keynesianer im Kreml

Publiziert am 16.02.06 in „junge welt“

Rußland profitiert vom Rohstoffboom. Premier Fradkow will Mehrwertsteuer senken und plant Investitionsprogramme für Wirtschaft und Soziales

Innerhalb der russischen Administration tobt seit Wochen ein verbissener Kampf um die zukünftige Ausrichtung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik des Landes. Am vergangenen Freitag wies Rußlands Premierminister Michail Fradkow die Anschuldigungen seines Finanzministers, Alexej Kudrin, zurück, der den Premier öffentlich einer schwachen, inflationsfördernden Politik bezichtigte. Entzündet hatten sich die Auseinandersetzungen nach der Veröffentlichung des Sozial- und Wirtschaftsprogramms bis 2008, das Fradkow ohne Absprache mit seinen Fachministern publiziert hat.

Steuersenkung

Verärgert zeigte sich der Finanzminister vor allem über die in dem Programm vorgesehene Reduzierung der Mehrwertsteuer von 18 auf 13 Prozent. Zweifellos würde diese spürbare Senkung einer Konsumsteuer die Massennachfrage in Rußland stimulieren und insbesondere die Bezieher kleiner Einkommen entlasten. Doch Kudrin will nur die »inflationären Risiken« einer solchen finanzpolitischen Maßnahme sehen. Zugleich opponiert der Finanzminister gegen die Erhöhung der staatlichen Investitionen. Die werden allein 2006 um 15 Prozent gesteigert und sollen vor allem der maroden Infrastruktur im Energiesektor zugute kommen. Premier Fradkow ließ nun verbreiten, daß die »exzessiven Investitionen im Elektrizitäts- und Energiesektor notwendig seien und nichts mit Inflation zu tun hätten«. An die zwei Milliarden Euro sollen in diesen für »Infrastrukturausgaben« bestimmten Fonds fließen. Tatsächlich stößt die russische Energieversorgnung in diesem besonders harten Winter an die Grenzen ihrer Kapazität. Zeitweise mußten Fabriken ihre Produktion drosseln, damit die Bevölkerung Moskaus weiterhin mit Energie versorgt werden konnte.

Inzwischen investiert der russische Staat auch verstärkt in die sozialen Sicherungssysteme, wenn auch auf niedrigem Niveau. Für das russische Gesundheitswesen wurden in diesem Jahr die Gelder um 89 Prozent aufgestockt. Im Jahre 2005 waren im föderalen Budget umgerechnet 1,9 Milliarden US-Dollar für das Gesundheitswesen vorgesehen. Für 2006 sind im Staatshaushalt bereits 3,6 Milliarden US-Dollar eingeplant. Soziale Projekte im Bildungssektor und Wohnungsbau sollen mit umgerechnet 5,7 Milliarden US-Dollar unterstützt werden. Die Ausgaben für das Bildungswesen steigen somit um 30 Prozent, die dem staatlichen Wohnungsbau zur Verfügung stehenden Mittel werden sogar vervierfacht. Darüber hinaus können sich die russischen Staatsbediensteten auf eine Gehaltserhöhung von 26 Prozent für 2006 freuen. Da die prognostizierte Inflationsrate bei zehn Prozent liegen soll, wäre dies eine spürbare Lohnsteigerung.

Bei einem recht gutem Wirtschaftswachstum von ca. sechs Prozent sind es vor allem die sprudelnden Einnahmen aus dem Rohstoffexport, die dem russischen Staat einen saftigen Haushaltsüberschuß bescherten und eine aktive Investitions- und Sozialpoltik erlauben. Die Staatseinnahmen von umgerechnet 238 Milliarden US-Dollar überstiegen 2005 die Ausgaben um 66 Milliarden, wobei die »Einkünfte aus dem Außenhandel« mit 21,5 Prozent die wichtigste Einnahmequelle des russischen Fiskus darstellten. Darüber hinaus wird 2005 als das erste Jahr in der Geschichte des postsowjetischen Rußlands eingehen, in dem die notorische Kapitalflucht gestoppt werden konnte; der Geldzufluß (77 Milliarden US-Dollar) überstieg den Abfluß um 300 Millionen US-Dollar.

»Venezualisierung«

Die sprudelnden Einnahmen aus Öl- und Gasverkäufen verdankt der russische Staat seiner gezielt betriebenen Eroberung der »Kommandohöhen« im Energiesektor: 2005 befanden sich 31 Prozent der russischen Ölproduktion im Staatsbesitz, 2004 waren es lediglich 16 Prozent. Andrej Illarionow, ein ehemaliger, neoliberaler Wirtschaftsberater Wladimir Putins, der aus Protest gegen die neue Wirtschaftspolitik zurückgetreten ist, spricht inzwischen von einer »Venezualisierung« russischer Wirtschaftspolitik. Der Staatliche Einfluß wächst aber nicht nur im Energiesektor: Erwähnt seien nur der Erwerb der Guta-Bank durch die staatliche Wneshtorgbank, der Kauf des Konzerns Power Machines durch die staatliche Stromholding RAO UES und schließlich die faktische Nationalisierung des Fahrzeugherstellers AwtoWAZ. Das sind für den normalen Russen alles Lichtblicke im Vergleich mit der Finsternis der Jelzin-Ära. Von einer wahrnehmbaren Überbrückung der Kluft zwischen Arm und Reich in Rußland kann allerdings nicht gesprochen werden. Der Großteil der Reichtümer des Landes befinden sich nach wie vor in den Händen einer schmarotzenden Oberschicht. So verfügen die reichsten zehn Prozent der russischen Gesellschaft über knapp 30 Prozent des privaten Vermögens, die ärmsten zehn Prozent müssen sich mit zwei Prozent begnügen. Diese Werte blieben im Vergleich zum Vorjahr nahezu unverändert. Die offizielle Arbeitslosigkeit beträgt 7,7 Prozent. Immerhin konnte die extreme Armut gesenkt werden: Nur noch 0,9 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb des staatlich anerkannten Existenzminimums – das mit 35 US-Dollar monatlich angegeben wird. 2004 waren es noch 1,9 Prozent.

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