Gravierende Unterschiede

Publiziert am 32.04.2005 in „junge welt“

Die Staaten Osteuropas haben kaum Aussicht auf wirtschaftlichen Anschluß an den Westen. Boom und Elend gehen in den neuen EU-Staaten meist Hand in Hand

Im Vergleich zum EU-Durchschnitt sind die neu in die Gemeinschaft aufgenommenen Staaten Osteuropas wirtschaftlich ausgesprochen unterentwickelt. Zugleich wachsen in diesen Volkswirtschaften die Regionen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Dies führt zu einer Vertiefung der ohnehin vorhandenen Entwicklungs- und Wohlstandsunterschiede. Zu diesen Ergebnissen kommt eine kürzlich von Eurostat, der EU-Statistikbehörde, durchgeführte Studie, die Wirtschaftsdaten bis Ende 2002 berücksichtigen konnte.

Aufschwung und Elend

Um das bestehende ökonomische Gefälle zwischen West und Ost zu verdeutlichen, ist der Vergleich des erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts pro Kopf der Bevölkerung mit dem EU-Durchschnitt aufschlußreich. So erreicht kein osteuropäisches Land auch nur ansatzweise das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen aller 25 Staaten der Europäischen Union. In Slowenien liegt es mit 74 Prozent des EU-Durchschnitts noch am höchsten, gefolgt von der Tschechischen Republik (66 Prozent) und Ungarn (56 Prozent). Hinzu kommen die regionalen Differenzierungen.

Besonders starke Unterschiede weist hierbei das neoliberale Musterland Slowakei auf, das 49 Prozent des EU-Niveaus erreicht. Die Hauptstadt Bratislava samt Umland erlebt einen regelrechten Wirtschaftsboom. In dieser Region erreicht das Pro-Kopf-Einkommen 112 Prozent des EU-Durchschnitts. Riesige Einkaufszentren und gläserne Bankentürme werden aus dem Boden gestampft, ausländische Investoren tummeln sich hier zuhauf: VW, Hyundai und Peugeot lassen im Großraum Bratislava riesige Fertigungsanlagen für Personenkraftwagen bauen. Diese aufstrebende Metropole steht in scharfem Kontrast zu den östlichen Landesteilen der Slowakei, wo teilweise nur 37 Prozent des EU-Durchschnitts erreicht werden und in denen das blanke Elend herrscht. Infolge fortgesetzter Kürzungen der ohnehin geringen Sozialhilfe kam es im Februar 2004 in der Ostslowakei zur ersten europäischen Hungerrevolte seit 1945. Der Aufstand der vorrangig davon betroffenen Roma wurde von der Polizei brutal zerschlagen.

Ost-West-Teilung

Polen bildet mit einem durchschnittlichen BIP pro Kopf von nur 45 Prozent des EU-Niveaus das Schlußlicht unter den größeren Neumitgliedern der EU. Lediglich die kleinen baltischen Staaten liegen mit 37 bis 44 Prozent noch weiter zurück. Ökonomisch am stärksten sind in Polen die Großräume Warschau und Poznan entwickelt. Die hauptstädtische Region »Mazowsze« erreicht immerhin 69,5 Prozent des EU-Niveaus. Doch ist eine sich verstärkende Ost-West-Teilung des Landes feststellbar. Fast alle westlichen Regionen erreichen nahezu die 50-Prozent-Marke des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der EU. Viele östliche Landesteile erreichen dagegen nicht einmal ein Drittel der durchschnittlichen EU-Wirtschaftsleistung. Unter den zehn rückständigsten Regionen der EU befinden sich sechs polnische Woiwodschaften. In diesen Gebieten liegt die offizielle Arbeitslosigkeit bei bis zu 35 Prozent, sind die Löhne viel niedriger als in der Hauptstadt, und ein soziales Netz ist de facto nicht existent. Im Osten des Landes fand im Zuge der »Systemtransformation« nach 1989 eine regelrechte Deindustrialisierung statt. Die meisten volkseigenen Großbetriebe sind längst abgewickelt, die wenigen, die vom westlichen Kapital übernommen wurden, beschäftigen nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Belegschaft.

Die regionalen Unterschiede werden in Zukunft noch größer werden, da die bereits starken Regionen ein viel schnelleres Wirtschaftswachstum aufweisen als die östlichen und nordöstlichen Gebiete. Deren Wirtschaftsstruktur ist noch weitgehend von extensiver Landwirtschaft geprägt. Im nordöstlichen Masuren oder südöstlichen Galizien finden sich noch zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe, die eine Anbaufläche von unter zehn Hektar bewirtschaften. Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung leben hier am Rande des Existenzminimums. Unter polnischen Wirtschaftsexperten gilt es als ausgemacht, daß die Masse dieser Kleinbauern der Konkurrenz mit der europäischen Agrarindustrie nicht gewachsen ist.

Landflucht

Die ihrer Lebensgrundlage beraubte Landbevölkerung wird auf Arbeitssuche in die Städte strömen, in denen bereits jetzt eine offizielle Arbeitslosenquote von annähernd 30 Prozent registriert wird. Da in Polen aufgrund des hartnäckigen Widerstandes der polnischen Bauernschaft niemals eine Kollektivierung durchgeführt wurde, blieb im Argarsektor diese anachronistische Produktionsweise erhalten. Wovor die polnischen Kommunisten zurückschreckten, wird nun die »unsichtbare Hand« des Marktes brutalst erledigen.

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