Der Osten auf Achse

„Junge Welt“, 26.07.2008
Die Wirtschaftskrise wird die seit der Expansion der EU etablierten Migrationsströme verändern. Fachkräfte gehen verstärkt nach Skandinavien

The Sun, Großbritanniens wichtigstes Revolverblatt, geizte nicht mit starken Worten, um die Folgen des immer drastischeren Wirtschaftseinbruchs auf den britischen Inseln zu beschreiben. Die Krise werde einem regelrechen »Horrorfilm« gleichkommen, in dem das Vereinigte Königreich die »Schwelle der Rezession« überschreiten dürfte und die Arbeitslosenzahl von 1,6 auf über zwei Millionen hochschnellen werde. Die Entfaltung dieses Szenarios werde zu einer massiven Abwanderung der offiziell registrierten 650000 Osteuropäer führen, die sich derzeit als Arbeitsmigranten auf den Britischen Inseln durchschlagen, warnte die Boulevardzeitung. Dies könne dazu führen, daß der Lohndruck in den von den Migranten dominierten, schlecht bezahlten Arbeitsfeldern wachse, was aber einem »Desaster« gleichkäme, das unbedingt zu verhindern sei, so The Sun.

Die Ostexpansion der Europäischen Union setzte ab 2004 eine gewaltige Migrationswelle in Gang. Millionen von Arbeitskräfte brachen aus der osteuropäischen Peripherie in die Zentren des Westens auf, um dort besser bezahlte Arbeit zu finden. Das enorme Lohngefälle zwischen den westlichen Kernstaaten der EU und den 2004 und 2007 aufgenommenen östlichen Beitrittsländern verlieh dieser Entwicklung zusätzlichen Auftrieb. Die in weiten Teilen der EU einsetzende Wirtschaftskrise wird zu einer nicht minder umfangreichen Veränderung der Migrationsströme führen, in deren Verlauf erneut Hunderttausende Osteuropäer ihren Wohnsitz verlagern dürften.

Zu den wichtigsten Herkunftsländern dieser Wanderarbeiterschaft des 21. Jahrhunderts zählen Polen und Rumänien. Schätzungen zufolge sind bis zu zwei Millionen Polen gen Westen aufgebrochen. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens am 1. Januar 2007 verließen bis zu eine Million Arbeitsemigranten das Land. Von Ost nach West etablierten sich zwei Migrationsströme. Im Norden strömten polnische und baltische Arbeitskräfte nach Großbritannien und Irland und später auch in die Niederlande. Im Süden wanderten Bulgaren und vor allem Rumänen gen Italien und Spanien. Dieser massive Abfluß von oftmals qualifizierten und jungen Menschen sorgt in den Herkunftsländern für einen ausgeprägten Facharbeitermangel. Die Überweisungen der Emigranten an die zu Hause gebliebenen Familien bringen aber auch einen enormen Wachstumsschub für ihre Heimatländer: Polens Wanderarbeiter schickten 2007 beispielsweise 7,2 Milliarden Euro in die Republik.

Neben Großbritannien waren mit Irland und Spanien vor allem jene Länder Ziel, die sich in einem durch kreditfinanzierte Immobilienblasen initiierten Wirtschaftsboom befanden. Nun sieht sich Spanien nach dem Platzen der Spekulationen in einer der schwersten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte. In Irland sind die Gewinnerwartungen auf dem Wohnungsmarkt bereits vor einiger Zeit gegenstandslos geworden.

Zehntausende in Spanien lebende Rumänen sind bereits von der Krise betroffen. Immer mehr der 600000 Arbeitsimmigranten, die einstmals vor allem im boomenden Bausektor auf der Iberischen Halbinsel ein Auskommen fanden, können keine Arbeit mehr finden und leben von ihren Ersparnissen. Die meisten von ihnen dächten jetzt an eine Rückkehr, berichtete das rumänische Nachrichtenportal HotNews, doch vielen sei dieser Weg verbaut, da sie bei spanischen Banken Kredite aufgenommen haben, um sich ihren Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Bei fallenden Immobilienpreisen übersteigen aber inzwischen die Schulden den Marktwert ihrer Häuser. Die in Italien lebenden Rumänen werden dagegen immer häufiger Opfer von Repressionen und Übergriffen, nachdem die Regierung Berlusconi in den Osteuropäern Sündenböcke für die mit der Wirtschaftskrise einhergehende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten gefunden hat.

Polens hochmobile Arbeiterschaft befindet sich dagegen inzwischen wieder auf Achse. Die polnischen Firmen würden »den Kampf um die Spezialisten« verlieren, da die aufgrund der Immobilienkrise zu erwartende Remigration nach Polen weitaus schwächer ausfallen würde als erwartet, lamentierte unlängst die polnische Börsenzeitung Parkiet. Polnische qualifizierte Arbeiter wanderten von den Britischen Inseln geradewegs in den skandinavischen Raum. Beliebt seien nun Dänemark und vor allem Norwegen. Junge Leute würden nicht mal »Bewerbungsgespräche mit polnischen Unternehmen in Betracht ziehen, sobald sie eine Offerte aus Norwegen erhalten«, beschwerte sich ein Vertreter der Zeitarbeitsfirma Manpower gegenüber Parkiet. Polen, Bulgarien und Rumänien starteten unlängst spezielle Werbeprogramme, um vor allem hochqualifizierte Arbeitskräfte zurück in die Heimatländer zu locken – bislang mit bescheidenem Erfolg. Etwa 100 Rumänen entschieden sich zur Heimkehr, nachdem die rumänische Regierung eine Reihe von Arbeitsbörsen in Italien organisierte hatte. Und Polens Remigration sei noch nicht statistisch meßbar, hieß es in einem Bericht der New York Times.

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