Streikmüdes Polen

„Junge Welt“, 04.05.2010
Steigende Arbeitslosigkeit und drohende Massenentlassungen führten zu sinkender Zahl von Arbeitskämpfen. Kleinere Gewerkschaften wollen neue Akzente setzen

Trotz gegenteiliger Beteuerungen der rechtsliberalen Regierung um Premier Donald Tusk hat die Weltwirtschaftskrise auch Polen hart getroffen. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg zwischen Oder und Bug auf über zwölf Prozent. Mehr als zwei Millionen Polen sind ohne eine Erwerbsmöglichkeit. Dabei hat eine Rückkehrwelle des in die Millionen gehenden Heeres polnischer Arbeitsmigranten gar nicht in dem Umfang eingesetzt, wie zu Krisenbeginn befürchtet. Die jüngsten angekündigten Entlassungen werden nahezu 28000 Lohnabhängige ihres Lebensunterhalts berauben. Darunter befinden sich 12600 Angestellte im öffentlichen Dienst, die den Sparmaßnahmen der neoliberalen Regierung zum Opfer fallen. Diese Situation nutzten die im Land aktiven Unternehmen und Konzerne massiv aus, um die Lohnabhängigen zu weitgehenden Zugeständnissen bei der Entlohnung und den Arbeitszeiten zu nötigen.

Eine Folge der wachsenden Arbeitslosigkeit: Es wurde wesentlich weniger gestreikt. In den ersten neun Monaten des vorigen Jahres nahmen 21800 Lohnabhängige an Ausständen teil. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum 2008 waren noch an die 208000 Streikteilnehmer verzeichnet worden. Die von der Regierung Tusk eingeleiteten Maßnahmen zur Krisenbekämpfung verstärkten überdies die Position der Unternehmer. In einem »Antikrisenpaket« wurde der Kapitalseite zugestanden, bis Ende 2011 jegliche Beschränkungen bei befristeten Arbeitsverträgen auszusetzen. Somit können Unternehmer unbeschränkt Zeitverträge mit Lohnabhängigen abschließen, während die ursprünglichen Bestimmungen vorsahen, daß der dritte abgeschlossene Zeitvertrag automatisch als ein unbefristeter Arbeitsvertrag Geltung hat.

Negativ auf die Gewerkschaftsbewegung wirkte sich auch die Kooperation der großen Dachverbände, der sozialdemokratischen OPZZ und der konservativen NSZZ »Solidarno«, bei der Verabschiedung des »Antikrisenpakets« aus. Im Gespräch mit junge Welt erläuterte Patryk Kosela von der linken Gewerkschaft WZZ »Sierpie 80« (August 80): »In Polen haben die großen Gewerkschaftszentralen, die das sogenannte Antikrisenpaket unterzeichneten, das viele Arbeiterrechte beschneidet, das Vertrauen der Arbeiter verloren. Damit ging ein Sinken des Organisationsgrades einher.« Dies sei aber nichts Neues, da die großen Gewerkschaften des Landes schon immer einer sehr »konziliante Haltung« Gegenüber der Regierung und privaten Unternehmern eingenommen hätten, so Kosela.

Auch in der jüngsten Zeit mangelt es nicht an Beispielen für ein opportunistisches Verhalten der größten polnischen Gewerkschaften. So stimmte die »Solidarno« der Entlassung von 2000 Beschäftigten des Versicherers PZU zu, obwohl der Konzern gerade einen der höchsten Gewinne seiner Unternehmensgeschichte eingefahren hatte.

Dennoch scheint die Zeit der Defensive für Polens Gewerkschaftsbewegung zu Ende zu gehen. Derzeit ist eine Reihe von harten Lohnverhandlungen im Gange, die zu Ausständen führen könnten. Dies betrifft vor allem Unternehmen, die trotz Krise gute Ergebnisse erzielten. In etlichen Konzernen der chemischen Industrie, des Flugzeug- und Fahrzeugbaus und sogar bei dem polnischen Ölkonzern Orlen stehen demnächst harte Verhandlungen an. In der Energiebranche setzt sich vor allem der gut organisierte Bergbausektor an die Spitze dieser Bemühungen um die Kampfbereitschaft der Gewerkschaften. Hierbei wollen vor allem die kleineren, radikaleren Organisationen, wie beispielsweise Sierpie 80, neue Akzente setzen.

Einen Schwerpunkt gewerkschaftlicher Aktionen sollen die Kämpfe um den Erhalt von Arbeitsplätzen bilden. Die von Sierpie 80 herausgegebene Zeitung Kurier Zwizkowy (Gewerkschaftskurier) wies zuletzt darauf hin, daß nur dank des entschlossenen Widerstandes von Belegschaften Massenentlassungen oder gar Betriebsschließungen verhindert werden könnten. In Fällen, in denen eine Schließung droht, fordert die Gewerkschaftszeitung die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Der Staat solle zuerst den Betrieb übernehmen, um dann »die Kontrolle über diesen denjenigen zu übergeben, denen am meisten an dessen Funktionieren liegt – den Arbeitern.«

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