Moskau öffnet Tresore

„Junge Welt“, 31.03.2009

Weltwirtschaftskrise zwingt zum Einsatz der Devisenreserven. Regierung will nicht nur Oligarchen, sondern allen Bürgern beispringen. Putin für »Sozialsystem auf Weltniveau«

Ist Rußland bereits über den Berg, oder taumelt es am Abgrund? In den Führungsgremien gibt es dazu derzeit Meinungsverschiedenheiten. So erklärte der stellvertretende Vorsitzende der russischen Zentralbank, Alexej Uljukajew, gegenüber dem Radiosender Echo Moskau am vergangenen Freitag: »Ich denke, die schärfste Phase der Krise ist überstanden.« Zur Begründung führte er die stabile Lage auf den heimischen Finanzmärkten an. Der Kapitalabfluß ebbe ab, ausländische Investoren kauften wieder vermehrt russische Aktien, so Uljukajew.

Tatsächlich konnte die Talfahrt des Aktienindex RTS gestoppt werden. Auch gelang es der Zentralbank, den Verfall des Rubel aufzuhalten. Die russischen Währung hatte sich von 35 Rubel je Euro im September 2008 auf einen Eurokurs von derzeit 45 Rubel verbilligt, doch seit Jahresbeginn blieb dieser Wert stabil. Doch der Preis war hoch: Im Ergebnis mehrerer Interventionen sanken die Devisenreserven der Zentralbank von 476 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007 auf 384 Milliarden im Februar 2009. Dennoch verfügt das Land noch über weitere Rücklagen in Höhe von 220 Milliarden US-Dollar, die im Stabilisierungsfonds geparkt sind. Uljukajew stellte sogar eine leichte Absenkung des Leitzinses in Aussicht, da die bislang mit 13 Prozent recht hohe Inflation abzuebben beginne. Vor allem kann die Russische Föderation einen wichtigen strukturellen Unterschied zu den meisten hochverschuldeten osteuropäischen Staaten aufweisen: Eine niedrige Auslandsverschuldung. Moskau hatte diese zwischen 2001 und 2007 dank üppiger Deviseneinnahmen von 33 auf 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) reduzieren können.

Probleme bestehen dennoch: Auch der optimistische Zentralbankvize mußte eingestehen, daß die Industrieproduktion stark zurückgehe und die Konjunkturprognose der Regierung, die bereits einen Absinken des BIP um 2,2 Prozent im laufenden Jahr erwartet, wohl zu optimistisch sei. Der Ausstoß der russischen Industrie ging im ­Januar 2009 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 16 Prozent zurück. Viele ökonomische Kerndaten deuten auf einen weiteren Abschwung hin. So sinkt gerade das seit Jahren beständig steigende Lohnniveau, das ursächlich für die gute Massennachfrage der zurückliegenden Jahre war. So war der Durchschnittslohn von umgerechnet 142 US-Dollar in 2002, über 301 Dollar 2005 auf 608 US-Dollar im vergangenen Jahr angestiegen. Doch bereits im Januar 2009 fiel er auf etwa 500 US-Dollar. Dramatisch auch die Lage der Erwerbslosen. Laut Nachrichtenagentur RIA-Nowosti erhöhte sich die Erwerbslosenzahl im Januar um 23,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf 6,1 Millionen Menschen. Dabei seien laut Statistikbehörde Rosstat nur 1,7 Millionen Personen als arbeitslos gemeldet, von denen 1,4 Millionen Unterstützung erhielten, monierte die Nachrichtenagentur.

Angesichts dieser Fakten warnte Finanzminister Alexej Kudrin Ende März vor übertriebenen Optimismus und prognostizierte eine »nächste Welle« der Krisendynamik, die das Land bald ergreifen werde. Vizewirtschaftsminister Andrej Klepatsch sekundierte ihm und verwies darauf, »daß sich infolge fehlender Nachfrage und Kreditressourcen die Balance der Unternehmen verschlechtert«. Dies ist eine freundliche Umschreibung. Zwar ist der Staat nahezu schuldenfrei, doch die russischen Unternehmen stehen im Ausland tief in der Kreide. Dort stehen allein in diesem Jahr Fälligkeiten von rund 130 Milliarden US-Dollar an. Hinzu kommen weitere Schulden bei russischen Banken.

Als Belastung erweist sich immer mehr die Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen obskurer Figuren, die in der Jelzin-Ära Volks- und Staatseigentum in persönlichen Besitz verwandelt hatten. So geriet der einst als reichster Mann Rußlands titulierte Oleg Deripaska ins Straucheln. Dem »gehören« unter anderen der Autohersteller GAS und der globale Aluminiumgigant Rusal. Insbesondere GAS war in seiner Existenz bedroht, da der vor kurzem noch boomende russische Automarkt Anfang 2009 im Jahresvergleich um 80 Prozent eingebrochen war. Nur dank einer Intervention des Kreml, zu dem Deripaska beste Kontakte unterhält, konnte ein Bankrott verhindert werden. Präsident Dimitri Medwedew lud den wichtigsten Gläubiger Deripaskas, den Milliardär Michail Fridman, zu einem persönlichen Gespräch vor. Danach erklärte der Finanzmogul, dessen Alfa-Bank eine Milliardenschuld bei Deripaska einzutreiben versuchte, daß dieser nur sein »persönlicher Freund« sei und man an einer »Lösung« des Problems arbeiten werde.

Immerhin sollen nicht nur Rußlands Milliardäre und Banken mit Milliardensummen gestützt, sondern auch breite Teile der Bevölkerung vermittels staatlicher Mehrausgaben vor den Krisenfolgen geschützt werden. Regierungschef Wladimir Putin erklärte bereits Ende Februar, das russische Sozialsystem auf »Weltniveau« heben zu wollen. Ein Antikrisenprogramm, das im April in der Duma beschlossen werden soll, sieht Mehrausgaben von umgerechnet 15 Milliarden Euro vor. Zur Finanzierung dieses Unterfangens wird auf den Stabilisierungsfonds zurückgegriffen. Die Renten sollen 2009 um durchschnittlich 24 Prozent steigen. Zudem soll die Gewinnsteuer für Unternehmen von 24 Prozent auf 20 Prozent sinken. Durch weitere Mehrausgaben hofft der Kreml, zusätzlich eine Million Arbeitsplätze zu schaffen, sowie 200000 Menschen die Umschulung finanzieren zu können.

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