„Junge Welt“, 02.04.2009
Hooverville, Bushville oder Obamaville? Bürger und Medien entdecken die USA als Land zwischen Verelendung, Vertuschung, Wut und Widerstand
Derzeit schießen überall in den USA Zeltstädte aus dem Boden, Notunterkünfte, in denen Opfer der aktuellen Weltwirtschaftskrise hausen. »Hoovervilles« werden sie gelegentlich genannt, ein längst vergessen geglaubter Begriff. Als Hoovers-Dörfer wurden in den 30er Jahren all die Elendsquartiere bezeichnet, die sich während der großen Depression im Land ausbreiteten. Dieser Begriff voller bitterer Ironie geht auf den inkompetenten US-Präsidenten Herbert Hoover (1929-1933) zurück, in dessen Amtszeit die bisher schwerste Wirtschaftskrise über das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« hereingebrochen war.
Inzwischen wird auch öffentlich diskutiert, welcher US-Politiker »Namenspatron« für die neuen Obdachlosensiedlungen sein soll: Im Gespräch sind »Cheneyville«, »Bushville« oder auch »Obamaville«. Die Obdachlosen von Seattle, der großen Industriemetropole im Nordwesten, haben beispielsweise ihre Zeltlager nach dem Bürgermeister der Stadt, Greg Nickel, auf den Namen »Nickelsville« getauft.
Die sozialen Konsequenzen des zusammengebrochenen Immobilienmarktes in den USA sind bereits jetzt verheerend. Allein im vergangenen Jahr wurden 3,2 Millionen Zwangsvollstreckungen eingeleitet. Da bezahlbare Mietwohnungen Mangelware sind, sah sich ein großer Teil der betroffenen Menschen genötigt, in ihren Autos zu leben oder bei Verwandten unterzukommen. Wer das nicht konnte, rutschte sofort in die Obdachlosigkeit und strandete in den Zeltstädten. Die Bewohner dieser provisorischen Lager sind jedoch nur ein kleiner Teil des rasch wachsenden Obdachlosenheeres in den Vereinigten Staaten. Laut Hilfsorganisation Nationale Allianz zur Beendigung der Obdachlosigkeit (National Alliance to End Homelessness) werden in diesem Jahr an die 3,5 Millionen Bürger der USA obdachlos sein – gegenüber 2007 ein Anstieg um 35 Prozent. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. 39 Prozent der US-Amerikaner ohne ein Dach über dem Kopf sind jünger als 18 Jahre.
Und die Zeltstädte können sich auf weiteres Wachstum einstellen. Neuesten Studien zufolge droht in den kommenden drei Jahren bis zu sechs Millionen Familien die Zwangsvollstreckung ihrer Häuser, sollten keine substantiellen Maßnahmen ergriffen werden. Nahezu zehn Prozent aller Hypothekennehmer könnten demnach in Gefahr geraten, ihr Wohneigentum zu verlieren. Die Administration von George W. Bush hatte die für die Bekämpfung der Obdachlosigkeit veranschlagten Haushaltsmittel seit 2004 um 2,2 Milliarden US-Dollar zusammengestrichen, die von der Regierung Barack Obamas zugesagten Mittel fließen noch nicht. »Für viele wird es zu wenig sein und zu spät kommen«, monierte der US Journalist Nan Mooney kürzlich.
Außerdem ändere sich die soziale Struktur bei den Betroffenen rapide, so Mooney. Die erste Welle der durch Zwangsvollstreckungen in Obdachlosigkeit getriebenen Hausbewohner bestand aus Menschen, denen die berüchtigten »Subprime-Hypotheken« aufgeschwatzt worden waren und die eher einer sozial schwachen Schicht zuzuordnen waren. Inzwischen geraten mehr und mehr arbeitslos gewordene Mitglieder der Mittelklasse unter die Räder, die sich vormals ihre Hypotheken durchaus leisten konnten. Die wegen der schweren Rezession der US-Wirtschaft rasant um sich greifende Arbeitslosigkeit dürfte diese Tendenz beschleunigen. Offiziell will das statistische Amt der USA eine Arbeitslosenquote von 8,1 Prozent für Februar 2009 ermittelt haben. Doch diese Statistik gilt schon längst als gnadenlos geschönt. Der Think-Tank Center for Economic and Policy Research ermittelte hingegen eine Erwerbslosenquote von 9,5 Prozent für Februar, indem er einfach dieselben statistischen Erhebungsmethoden anwandte, wie sie während der letzten schweren Rezession 1982 zur Anwendung gelangten. Das alternative Statistikportal shadowstats.com konstatiert inklusive jener »entmutigten Erwerbslosen«, die die Arbeitssuche aufgegeben haben, auf eine Quote von nahezu 19 Prozent.
Ähnlich manipuliert wie die offizielle Arbeitslosenstatistik sind auch die amtlichen Angaben zur Armut. So gilt beispielsweise eine vierköpfige Familie erst dann als arm, wenn ihr jährlich weniger als 20444 US-Dollar Einkommen zur Verfügung stehen. Dies entspräche einem Monatshaushaltseinkommen von umgerechnet 1280 Euro. Trotz dieser Tricks stieg die Anzahl der offiziell registrierten Armen zwischen 2000 und 2008 von 31,6 Millionen auf 37,2 Millionen Menschen. Die amtliche Armutrate liegt derzeit bei 13 Prozent. Die Nichtregierungsorganisationen (NGO) Center for Budget and Policy Priorities geht in einer jüngst publizierten Studie davon aus, daß die bereits breit einsetzende Verelendung enorme Ausmaße annehmen wird. Die Anzahl der in Armut lebenden Bürger könne demnach um bis zu zehn Millionen bis Ende 2009 anschwellen. Zudem warnt die NGO, daß aufgrund der Kürzungen der 80er und 90er Jahre das Sozialsystem nicht in der Lage sei, diese Verelendungswellen zu bewältigen. Derzeit würde ein »substantieller« Anteil der betroffenen Menschen ohne jegliche soziale Unterstützung auskommen müssen – selbst Lebensmittelmarken würden diesen Menschen vorenthalten.
Diese rasant voranschreitende Verelendung – potenziert durch die billionenschweren Hilfsmaßnahmen für in Schieflage geratene Banken und Versicherungen – läßt die Wut in der Bevölkerung an vielen Stellen bereits überkochen. Unklar ist allerdings, welche Richtung diese zunehmende Radikalisierung nehmen wird. Dabei stehen die Chancen für die Linke nicht schlecht. In den zurückliegenden Jahren ist ein umfassendes Netz alternativer Medien in den USA entstanden, das inzwischen Millionen Menschen erreicht. Während vormals kreuzbrave linksliberale Organe wie die einflußreiche Zeitschrift The Nation inzwischen prominente linke Intellektuelle wie Mike Davies oder Immanuell Wallerstein sozialistische Alternativen zum bestehenden System diskutieren lassen, mobilisiert für den 11. April ein breites Bündnis zur Massendemonstrationen im gesamten Land, um gegen weitere Milliardengeschenke an die US-amerikanische Finanzoligarchie zu protestieren. Bei solchen Aktionen dürfte sich zeigen, inwiefern es der Linken gelingt, die weit verbreitete Wut in der Bevölkerung in Widerstand zu wandeln. Sollte dies nicht gelingen, warnt das progressive Portal alternet.org, drohe den USA ein »faschistischer Gegenschlag«, falls Demagogen aus der Republikanischen Partei den rasch anschwellenden Unmut für ihre Zwecke instrumentalisieren sollten.