Raketenpoker geht weiter

„Junge Welt“, 28.03.2008
Tauziehen um US-Abwehrsystem in Osteuropa. Vorsichtige Annäherung zwischen Washington und Moskau. Rußland wird Kontrollrecht eingeräumt

Die Fronten im Streit um die US-Raketenabwehr in Osteuropa scheinen in Bewegung zu geraten. Rußland und die USA sind zuletzt in einen engen Dialog über die in Polen und Tschechien geplante Stationierung von zehn Abfangraketen und einer Radaranlage getreten. Das Militärsystem wird vom Kreml als Gefährdung seines nuklearen Abschreckungspotentials empfunden. Die erste Runde der Gespräche zwischen den Verteidigungs- und Außenministern beider Staaten fanden bereits am 17. und 18. März in Moskau statt. Zur zweiten Runde traf man sich am Mittwoch nun in Washington.

In dem Tagen nach der ersten Gesprächsrunde waren die von den USA unterbreiteten Zugeständnisse in der russischen Presse schon überwiegend positiv diskutiert worden. Besonders wohlwollend wurde das Angebot Wa­shingtons aufgenommen, Rußland die Möglichkeit zu geben, die geplante Raketenabwehr »unter Beobachtung zu nehmen«, wie die Nachrichtenagentur RIA-Novosti berichtete. In einem Interview mit der Zeitung Iswestija erläuterte Außenminister Sergej Lawrow das Angebot. Die USA seien bereit, Moskau spontane Inspektionen in den entsprechenden US-Militärbasen in Polen und Tschechien zu erlauben, sowie deren »technische Überwachung« zu gewährleisten. Rußland könne dann »die Arbeit der Radaranlagen verfolgen und begutachten«, so Lawrow.

Noch deutlicher wurde die Zeitung Kommersant: Moskau sei nun nun bereit, »die US-amerikanische Raketenabwehr zu akzeptieren«, da die Bedingungen erfüllt wurden, schrieb das Blatt. Daß die Zugeständnisse Washingtons auch einen (vorläufigen) Verzicht auf die Expansion der NATO gen Osten beinhalten könnten, darüber hatte Kommersant bereits am 19. März spekuliert. Die Kiyiv Post hatte die Mutmaßungen in einem weiteren Beitrag untermauert, in dem konkret von einer »Verschiebung« des NATO-Beitritts der Ukraine und Georgiens die Rede ist. Demnach werden beide ehemaligen Sowjetrepubliken beim Bukarester NATO-Gipfel vom 2. bis 4. April nicht in den Membership Action Plan der Allianz aufgenommen, der als Vorstufe einer Vollmitgliedschaft gilt. Deutschland und Frankreich führten laut der führenden Zeitung in der ukrainischen Hauptstadt den Widerstand gegen die Ostexpansion der NATO an, da beide Länder ein Zerwürfnis mit Rußland vermeiden wollten. Dies sei das erste Mal, daß mit Rußland ein »nicht der NATO angehörender Staat« die Entscheidung der Militärallianz »hemme«, wetterte die prowestliche Kiyiv Post.

Die Regierungen Polens und Tschechiens regierten hingegen verhalten positiv auf die jüngsten Verhandlungsergebnisse. Tschechiens Premier Mirek Topolanek bekräftigte in einem Interview mit der Zeitung Pravo, daß es schließlich nicht um eine ständige Anwesenheit russischer Militärs in seinem Land gehe, sondern um kurzfristige Kontrollen. Am Mittwoch äußerte sich Polens Verteidigungsminister Sikorski ähnlich, indem er »temporäre Inspektionen« der geplanten US-Militäranlagen durch russisches Militärpersonal für möglich hielt. Zu einer weiteren Runde im Raketenpoker zwischen Rußland und den USA werden sich die Präsidenten beider Länder am 6. April im russischen Badeort Sotschi treffen.

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